Auf der Internetseite »Short Stories: 10 Tips for Novice Creative Writers« (deutsch: »Kurzgeschichten: 10 Tips für Anfänger/innen«) finden sich tatsächlich einige gute Hinweise, wie man eine Kurzgeschichte angehen sollte.

Ich habe bisher hauptsächlich über Romane gesprochen – weil ich selbst eine Romanautorin bin und das auch lieber mache, als Kurzgeschichten zu schreiben –, aber für viele ist ein Roman für den Anfang ein zu großes Projekt. Es ufert aus, wird unübersichtlich, läßt sich nicht beherrschen.

Für diese Autorinnen – und diejenigen, die ohnehin immer Kurzgeschichten schreiben wollten und nicht Romane – trifft zwar das, was bisher zum Aufbau eines Romans gesagt wurde, ebenfalls zu; es gibt jedoch auch Unterschiede.

Wie ich schon einmal sagte, ist ein Kennzeichen für Kurzgeschichten, daß man schnell in die Geschichte hineinkommt. Es gibt keinen großen Vorlauf, man springt einfach an einem interessanten Punkt in die Geschichte. Ich wiederhole: an einem interessanten Punkt, nicht an einem langweiligen.

Dieses Kennzeichen findet sich auch als erstes auf der besagten Internetseite in einer Liste wieder.

Eine Kurzgeschichte . . .
. . . kommt schnell in Gang.
 . . . hat im allgemeinen eine begrenzte Anzahl von Figuren und Szenen.
 . . . beginnt so nah wie möglich am Ende, an der Auflösung der Geschichte.
 . . . befaßt sich meist nur mit einem einzigen Problem.
 . . . erwähnt nur die Details, die zum Verständnis der Situation unbedingt nötig sind.
 . . . deckt normalerweise nur eine kurze Zeitspanne ab.

Einfach, oder? Klingt das nicht viel besser als die Beschreibung dessen, was ein Roman alles erfordert? Viele Figuren, viele Kapitel, noch mehr Szenen, unzählige Konflikte und Probleme, massenhaft Erklärungen und eine lange, lange Zeit, die vergeht, während die Geschichte erzählt wird.

Typisch amerikanisch geht es auf der Internetseite weiter; es wird nämlich als erstes gefragt, ob die Kurzgeschichte vielleicht schon morgen fällig ist. Bei der unübersehbaren Masse amerikanischer Schreibwettbewerbe, bei denen Geschichten nur akzeptiert werden, wenn sie genau die Anzahl Wörter enthalten, die gefordert wird (meist 1.000, aber letztens las ich in einem Wettbewerb von 100(!)), ist das wahrscheinlich das, was die meisten interessiert.

Für uns ist das nicht so wichtig, aber die Tips kann man sich ja mal merken.

Es beginnt mit:

Wenn Sie Schwierigkeiten damit haben anzufangen, schauen Sie aus dem Fenster. Die ganze Welt ist eine Geschichte und jeder Augenblick ist ein Wunder.
(Bruce Taylor, Professor für kreatives Schreiben an der Universität von Wisconsin)

Klingt hübsch, nicht? Und ist es auch. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, kann man wirklich jede Sekunde eine Idee für eine Geschichte auffangen.

Die Idee allein tut es aber nicht. Also kommt auch hier wieder das Handwerk ins Spiel. Hier sind die Empfehlungen:

Machen Sie Listen

Skizzieren Sie die Charaktere, den Plot (die Handlung), die gefühlsmäßige Stimmung usw. – ohne daß sie Ihre Ideen in Sätze oder Absätze fassen. Das kostet nur Zeit. Stichworte sind genug.

Schreiben Sie Stichworte auf, die Sie mit Glücklichsein verbinden, mit Leuten, die Sie bewundern oder hassen, mit Dingen wie Schule, Einkaufen oder sonst irgend etwas.

Eine Geschichte beginnt sich um diese Liste herum zu entwickeln, und wenn Sie Wörter auf Ihrer Liste verändern (was viel einfacher ist als ganze Sätze oder Absätze umzuschreiben), wird sich die Idee der Geschichte ebenfalls verändern.

Entwickeln Sie eine Liste von Ereignissen

Erinnern Sie sich an leidvolle, ungewöhnliche oder schwierige Abschnitte in Ihrem Leben. Suchen Sie sich einige dieser Ereignisse aus und schreiben Sie einen Absatz über jedes einzelne.

Probieren Sie »Clustering« aus

Wählen Sie ein Wort, das das Thema Ihrer Geschichte ist – das Ding, um das sich alles dreht.
Schreiben Sie das Wort in die Mitte eines großen Blattes Papier und ziehen Sie einen Kreis darum.
Fünf Minuten lang schreiben Sie um dieses Wort herum alle Wörter, die Ihnen spontan dazu einfallen, egal ob es eine Handlung ist, ein Bild, der Teil eines Gespräches oder etwas Abstraktes.
Versehen Sie auch diese Wörter mit einem Kreis und und ziehen Sie Linien und Pfeile zwischen den Wörtern, die eine Verbindung miteinander zu haben scheinen.

Führen Sie ein Notizbuch

Notizbücher sind »Brutkästen«. Ein Ort, an dem Sie zufällig gehörte Gespräche sammeln, ausdrucksstarke Redewendungen, Bilder, Ideen und Interpretationen bezüglich der Welt, die Sie umgibt.

Schreiben Sie regelmäßig, jeden Tag

Den Tip kennen wir schon. Schreiben Sie jeden Tag ein oder zwei Stunden lang, auch wenn Sie sich nicht danach fühlen.

Sammeln Sie Geschichten von jedem, der Ihnen über den Weg läuft

Schreiben Sie die erstaunlichen, die ungewöhnlichen, die fremdartigen, die unvernünftigen und unlogischen Geschichten, die Sie hören, auf und verwenden Sie sie für Ihre eigenen Zwecke. (Das Schreiben ist gemeint, wohlgemerkt. )

Analysieren Sie diese Geschichten und versuchen Sie die unterschwellige Bedeutung zu erfassen. Es ist nicht immer alles so, wie es scheint. Meist steckt mehr dahinter. Versuchen Sie den Geisteszustand der Menschen zu verstehen.

  • Eine Frau ist zickig? – Warum?
  • Ein Mann führt sich wie ein Macho auf? – Warum?
  • Ein Kind ist unerträglich? – Warum?

Und der letzte Rat im ersten Teil ist:

Lesen, lesen, lesen!

Lesen Sie alle guten Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die Sie sich überhaupt nur vorstellen können. Lesen Sie deren Bücher und lesen Sie sie wieder und wieder.

Versuchen Sie hinter deren Geheimnisse zu kommen.
Ist Thomas Mann Ihr Fall? Dann lesen Sie vor allem Thomas Mann.
Ist es eher Goethe? Dann lesen Sie Goethe.

Lesen Sie Carson McCullers, Luise Kaschnitz, Sylvia Plath, Annette von Droste-Hülshoff, George Sand, Daphne du Maurier, Agatha Christie, die Brontë-Schwestern, George Eliot, Selma Lagerlöf, Sigrid Undset, Colette, Virginia Woolf, Christa Wolf, Irmtraud Morgner – was Sie wollen und wieviel Sie wollen, aber lesen Sie.

Und wenn Sie dann so ein Kleinod finden wie dieses Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff, freuen Sie sich einfach.

Letzte Worte

Geliebte, wenn mein Geist geschieden,
So weint mir keine Träne nach;
Denn, wo ich weile, dort ist Frieden,
Dort leuchtet mir ein ewger Tag!

Wo aller Erdengram verschwunden,
Soll euer Bild mir nicht vergehn,
Und Linderung für eure Wunden,
Für euern Schmerz will ich erflehn.

Weht nächtlich seine Seraphsflügel
Der Friede übers Weltenreich,
So denkt nicht mehr an meinen Hügel,
Denn von den Sternen grüß ich Euch!