Schreiben Sie einen mitreißenden ersten Absatz!

In der heutigen Welt, die sich so schnell weiterentwickelt, daß man kaum folgen kann, muß der erste Satz sofort die Aufmerksamkeit Ihrer Leserinnen fesseln, und zwar mit etwas Ungewöhnlichem oder Unerwartetem, mit einer aufsehenerregenden Handlung oder einem Konflikt.

Beginnen Sie mit Spannung und Plötzlichkeit. Springen Sie unmittelbar und unverzüglich mitten in die Geschichte hinein.

Denken Sie daran, daß Kurzgeschichten immer kurz vor dem Ende beginnen.

Versuchen wir uns einmal an dem ersten: etwas Ungewöhnliches.

Was ist ungewöhnlich?

Ungewöhnlich ist alles, was uns nicht jeden Tag passiert, was uns nicht jeden Tag begegnet.

Das Gewöhnliche ist: morgens aufstehen, duschen, zähneputzen, zur Arbeit gehen, arbeiten, nach Hause kommen, essen, fernsehen.

Es liegt also auf der Hand, daß davon nichts in einem ersten Absatz einer Kurzgeschichte vorkommen sollte. Das wäre langweilig.

Also nehmen wir das Gegenteil: morgens nicht aufstehen, nicht duschen, nicht zähneputzen . . .

Hm. Scheint ein fauler, dreckiger Mensch zu sein, der uns da entgegenstarrt. Eine interessante Figur? Nicht unbedingt.

Das nächste wäre: nicht zur Arbeit gehen.

Ich beschloß an diesem Morgen, einfach nicht zur Arbeit zu gehen.

Das klingt zumindest vielversprechend, denn es sagt aus, daß die Hauptfigur etwas tut, das für sie ungewöhnlich ist.

Die meisten würden wahrscheinlich noch den zweiten Satz lesen, um zu erfahren, warum die Hauptfigur ihre Gewohnheiten an diesem Morgen ändert.

Jetzt kommt der zweite Coup:

Das Unerwartete

Ich beschloß an diesem Morgen, einfach nicht zur Arbeit zu gehen, sondern eine Kreuzfahrt zu machen.

Haben Sie das erwartet? Nein? Dann ist das ein guter Satz für den Anfang.

Spontane Kreuzfahrten sind eigentlich bei uns Normalsterblichen eher selten. Ich weiß auch gar nicht, ob das überhaupt geht, auf jeden Fall ist es eine Idee, die nicht jedem morgens beim Aufstehen kommt.

Nun fehlt uns noch

Die Aktion/Handlung

Ich nahm eine Schere und zerschnitt sämtliche Blusen, die ich je im Büro getragen hatte.

Haben Sie das schon mal gemacht? Also ich nicht. Somit erscheint diese Aktion doch sehr aufsehenerregend.

Und gleichzeitig ist es der Einsatz von »Show don’t tell«, denn was die Hauptfigur hier tut, trennt sie offensichtlich von ihrem vergangenen Leben ab. Es ist eine symbolische Aktion, die das Ende einer Ära beschreibt: der Ära der zufriedenen, braven, fleißigen Angestellten.
Ein neuer Mensch entsteht wie Phönix aus der Asche.

Das letzte der erforderlichen Elemente:

Der Konflikt

Das einzige Problem war: Woher sollte ich das Geld nehmen?

Das ist kein ungewöhnlicher Konflikt, eher ein Konflikt, den wir alle kennen, aber ein Konflikt muß auch nicht ungewöhnlich sein. Es muß einfach nur ein Konflikt sein.

Somit haben wir also jetzt:

Ich beschloß an diesem Morgen, einfach nicht zur Arbeit zu gehen, sondern eine Kreuzfahrt zu machen. Ich nahm eine Schere und zerschnitt sämtliche Blusen, die ich je im Büro getragen hatte. Das einzige Problem war: Woher sollte ich das Geld nehmen?

Das klingt doch gar nicht so schlecht. Und wie lange haben wir dafür gebraucht? Vielleicht fünf Minuten.

Es ist oft nicht einfach, sich etwas Ungewöhnliches aus dem Stegreif auszudenken, deshalb finde ich die Methode »Vom Gewöhnlichen, Alltäglichen zum Ungewöhnlichen, nicht Alltäglichen« sehr gut.

Was man gewöhnlich tut, jeden Tag, jede Minute, das weiß man, das kann man im Schlaf herbeten. Also schreiben Sie einfach alles auf, was Sie jeden Tag tun, so detailliert wie möglich, denn auch ein kleines Detail kann, wenn man das Gegenteil davon nimmt, der ungewöhnliche Anfang für eine Geschichte sein.

Eine Mutter beispielsweise, die jeden Morgen das Frühstück für ihre Kinder macht. Das wäre das Gewöhnliche, Alltägliche.

Nun kommen die Kinder morgens in die Küche – verschlafen und schon zu spät, weil die Mutter sie nicht geweckt hat –, und der Frühstückstisch ist nicht gedeckt. Die Mutter ist verschwunden.

Ist das nicht irgendwie erschreckend, überraschend, neu und ungewöhnlich? Gerade bei Müttern erwartet man keine Abweichung von der Routine, denn sie sind in ein festes Korsett gepreßt. Die Kinder sind ja von ihnen abhängig. Die meisten Mütter können sich dieser Verantwortung nicht einfach so entziehen, möchten es aber vielleicht – zumindest manchmal.

Sie tun es aber nicht. Was also ist geschehen, daß diese Mutter es getan hat?

Es könnte etwas Schlimmes sein. Ein Verbrechen könnte ihr zugestoßen sein oder – was viel, viel interessanter wäre – sie könnte ein Verbrechen begangen haben.

Sie sehen, das Nachdenken über die Möglichkeiten des Ungewöhnlichen und Unerwarteten führt von einem zum anderen, die Ideen sprudeln nur so.

Wollen Sie einmal versuchen, einen mitreißenden ersten Absatz zu schreiben, der direkt in die Geschichte hineinspringt?

Dann folgen Sie dem Schema:

  • Ungewöhnlich
  • Unerwartet
  • Aktion
  • Konflikt

Die Reihenfolge muß nicht die hier genannte sein. Sie können auch mit der Aktion beginnen oder mit dem Konflikt, mit dem Unerwarteten vor dem Ungewöhnlichen – das ist völlig egal. Sie können alles in einem einzigen Satz zusammenfassen (wenn er nicht zu lang wird) oder drei, fünf, sieben Sätze schreiben, darauf kommt es nicht an.

Mehr als fünf oder sieben Sätze sollten es für den ersten Absatz allerdings nicht sein. Generell sollte ein Absatz nicht mehr als fünf oder sieben Sätze beinhalten, denn beim Lesen läßt dann die Aufmerksamkeit nach. Nach spätestens sieben Sätzen sollte ein neuer Absatz beginnen, besser nach fünf, und am Anfang reichen auch drei – wenn sie prägnant sind.

Also: Denken Sie darüber nach, was das Langweiligste in Ihrem Leben ist, die schlimmste Routine, die Sie hassen – und dann nehmen Sie das Gegenteil und machen daraus eine Geschichte.