Erzählperspektive

In Teil 3 haben wir die Figur entworfen, nun müssen Sie sich für eine Erzählperspektive entscheiden. Sie haben dafür verschiedene Perspektiven zur Auswahl, die erste, zweite und dritte Person. Wobei Sie jetzt wahrscheinlich schon überlegen, ob Sie je ein Buch in der zweiten Person gelesen haben.

Vermutlich nicht. Das ist sehr unüblich. Die zweite Person, also die Du-Perspektive, verwendet man eher in Briefen, vielleicht auch in Tagebüchern, weniger in Kurzgeschichten und Romanen.

Dennoch ist es durchaus möglich, so zu schreiben.

Egal, welche Erzählperspektive Sie wählen, eine Kurzgeschichte wird immer aus der Sicht einer einzigen Figur erzählt, das heißt, die Leserin verfolgt das Geschehen mit den Augen dieser Person.

Ich habe schon einmal etwas über Erzählperspektive und Erzählsprache geschrieben. Dort ging es jedoch mehr um die Sprache, die mit der Perspektive übereinstimmen muß. Dennoch müssen Sie sich, bevor Sie die Sprache einsetzen können, Gedanken über die Erzählperspektive machen.

Soll die Geschichte eher subjektiv klingen – was eine Kurzgeschichte selbstverständlich immer ist, weil man in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit keine objektive Abhandlung schreiben kann – oder eher distanziert?

Für sehr subjektive Darstellungen bietet sich natürlich die Ich-Perspektive an. Dennoch kann auch die Ich-Perspektive höchst distanziert klingen, wenn die Hauptfigur ein »hardboiled detective« ist oder ein »tough guy«. Diese harten Männer oder eher Jungs sind so weit entfernt von ihren Gefühlen, daß selbst in der Ich-Perspektive keine wirkliche Identifikation mit ihnen aufkommt. Wir finden sie bei Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Humphrey Bogart hat im Film viele dieser Figuren überzeugend dargestellt.

Diese Art zu schreiben ist für Frauen eher ungeeignet. Für uns sind Gefühle wichtig, und wir wollen sie nicht nur leben, sondern auch in unseren Geschichten darstellen. Ein von einer Frau in der Ich-Perspektive geschriebener Text wird deshalb selten distanziert klingen, sondern immer ihre eigene, die ihr eigene Sicht der Dinge darstellen, besonders ihre Gefühlswelt.

Selbst ein in der dritten Person von einer Frau geschriebener Text klingt oft so, als wäre er in der ersten Person geschrieben, denn die Hauptfigur kommt meist nicht über ihr eigenes enges Blickfeld hinaus. Es wird nur erzählt, was sie selbst sieht und erlebt, alles andere findet nicht statt. Diese »personale Erzählperspektive« könnte man fast mit der Ich-Perspektive gleichsetzen. Bei beiden Formen verschwimmt der Unterschied zwischen Autorin und Erzählerin. Es ist nicht auszumachen, ob die Hauptfigur ein »Alter Ego« (Anderes Ich) der Autorin ist, die Autorin dies also alles erlebt hat, oder ob sie eine rein fiktive Erzählerin ist, die eine erfundene Geschichte erzählt.

Im Gegensatz dazu steht die ebenfalls sehr gebräuchliche Form des »auktorialen Erzählens«. Die »allwissende Erzählerin« beschreibt alles, was zu der Geschichte gehört, egal mit welcher Figur es zu tun hat. Sie kann von einem Ort zum anderen springen, von einem Kopf in den anderen.

Das auktioriale Erzählen verlangt der Autorin sehr viel mehr Wissen über die handelnden Figuren ab als das rein personale Erzählen, egal ob in der ersten oder der dritten Person. Eine auktoriale Erzählerin muß jede einzelne Figur in- und auswendig kennen, sie darf sie nicht nur aus der Außenperspektive beschreiben, also so, wie beispielsweise die Ich-Erzählerin eine andere Person sieht, sondern sie muß auch das Innenleben jeder ihrer Figuren kennen.

Da auktoriales Erzählen so viel anspruchsvoller ist als personales Erzählen, wird es fast ausschließlich von professionellen AutorInnen verwendet. HobbyautorInnen und AmateurInnen verwenden praktisch immer die personale Erzählform, weil sie nicht in der Lage sind, von ihren eigenen Erfahrungen zu abstrahieren, sprich sich etwas außerhalb ihrer eigenen Erfahrung vorzustellen.

Schauen wir uns einmal die Unterschiede an.

Ich-Perspektive
Ich sah eine Träne ihre Wange hinunterlaufen. Noch nie hatte ich meine Mutter weinen sehen. Wenn ich ihr doch nur helfen könnte, dachte ich.

Personale Perspektive 3. Person

Sie sah eine Träne die Wange ihrer Mutter hinunterlaufen. Noch nie hatte sie ihre Mutter weinen sehen. Wenn ich ihr doch nur helfen könnte, dachte sie. (Oder unpersönlicher: Sie dachte darüber nach, wie sie ihrer Mutter helfen könnte.)

Auktoriale Perspektive

An diesem Tag weinte Henriettas Mutter. Es war das erste Mal, daß Henrietta ihre Mutter weinen sah.
Klaus stand daneben und beobachtete seine Schwester mit distanziertem Blick. Daß Frauen immer heulen müssen, dachte er.
Gleichzeitig wurde am anderen Ende der Stadt ein Kind geboren.

Schon aus diesen paar Sätzen wird offensichtlich, daß es bei den verschiedenen Perspektiven verschiedene Probleme zu bewältigen gilt.

Bei der Ich-Perspektive reicht ein einfaches »ich« und »sie«, um die Personen auseinanderzuhalten.

Schreiben Sie in der 3. Person, ist das schon nicht mehr so einfach, denn auch die Erzählerin wird in diesem Falle mit »sie« bezeichnet, also muß schon im ersten Satz klar zwischen »Sie«-Tochter und »Sie«-Mutter unterschieden werden.

In der auktorialen Perspektive können Sie frei von Person zu Person springen, von Ort zu Ort. Sie können erzählen, was am anderen Ende der Stadt passiert, obwohl Ihre Personen dort nicht sind und dieses Ereignis nicht miterleben, vielleicht sogar nie davon erfahren.

Die auktoriale Erzählform ist die freieste, aber auch die schwierigste, denn alles im Blick zu behalten, was an sämtlichen Handlungsschauplätzen geschieht, erfordert einiges an Planung und Übersicht.

Sowohl die Ich-Perspektive als auch die personale Sie-Perspektive sind sehr beschränkt, beschränkt in der Wahrnehmung der Ereignisse und auch in der Möglichkeit, Dinge zu erzählen, die zur Geschichte gehören, aber nicht direkt der Hauptperson geschehen.

In einer Kurzgeschichte, die sowieso nur aus einer sehr beschränkten Perspektive erzählt wird, sind sie sicherlich das Mittel der Wahl. Eine auktoriale Erzählweise ließe sich zwar einbauen, würde aber wohl recht gezwungen oder unnatürlich wirken. In sehr kunstvollen Kurzgeschichten gibt es das, für Anfängerinnen ist diese Aufgabe jedoch meist zu schwer. Das sollten Sie den Profis überlassen.

Am einfachsten ist es sicherlich, mit der Ich-Perspektive zu beginnen, später dann die Geschichte in die personale Sie-Perspektive umzuschreiben und ganz später, wenn Sie sich absolut sicher fühlen, die auktoriale Perspektive auszuprobieren. So tasten Sie sich langsam an die Kunst des Schreibens heran.