Auf der Internetseite »Short Stories: 10 Tips for Novice Creative Writers« (deutsch: »Kurzgeschichten: 10 Tips für Anfänger/innen«) finden sich tatsächlich einige gute Hinweise, wie man eine Kurzgeschichte angehen sollte.

Ich habe bisher hauptsächlich über Romane gesprochen – weil ich selbst eine Romanautorin bin und das auch lieber mache, als Kurzgeschichten zu schreiben –, aber für viele ist ein Roman für den Anfang ein zu großes Projekt. Es ufert aus, wird unübersichtlich, läßt sich nicht beherrschen.

Für diese Autorinnen – und diejenigen, die ohnehin immer Kurzgeschichten schreiben wollten und nicht Romane – trifft zwar das, was bisher zum Aufbau eines Romans gesagt wurde, ebenfalls zu; es gibt jedoch auch Unterschiede.

Wie ich schon einmal sagte, ist ein Kennzeichen für Kurzgeschichten, daß man schnell in die Geschichte hineinkommt. Es gibt keinen großen Vorlauf, man springt einfach an einem interessanten Punkt in die Geschichte. Ich wiederhole: an einem interessanten Punkt, nicht an einem langweiligen.

Dieses Kennzeichen findet sich auch als erstes auf der besagten Internetseite in einer Liste wieder.

Eine Kurzgeschichte . . .
. . . kommt schnell in Gang.
 . . . hat im allgemeinen eine begrenzte Anzahl von Figuren und Szenen.
 . . . beginnt so nah wie möglich am Ende, an der Auflösung der Geschichte.
 . . . befaßt sich meist nur mit einem einzigen Problem.
 . . . erwähnt nur die Details, die zum Verständnis der Situation unbedingt nötig sind.
 . . . deckt normalerweise nur eine kurze Zeitspanne ab.

Einfach, oder? Klingt das nicht viel besser als die Beschreibung dessen, was ein Roman alles erfordert? Viele Figuren, viele Kapitel, noch mehr Szenen, unzählige Konflikte und Probleme, massenhaft Erklärungen und eine lange, lange Zeit, die vergeht, während die Geschichte erzählt wird.

Typisch amerikanisch geht es auf der Internetseite weiter; es wird nämlich als erstes gefragt, ob die Kurzgeschichte vielleicht schon morgen fällig ist. Bei der unübersehbaren Masse amerikanischer Schreibwettbewerbe, bei denen Geschichten nur akzeptiert werden, wenn sie genau die Anzahl Wörter enthalten, die gefordert wird (meist 1.000, aber letztens las ich in einem Wettbewerb von 100(!)), ist das wahrscheinlich das, was die meisten interessiert.

Für uns ist das nicht so wichtig, aber die Tips kann man sich ja mal merken.

Es beginnt mit:

Wenn Sie Schwierigkeiten damit haben anzufangen, schauen Sie aus dem Fenster. Die ganze Welt ist eine Geschichte und jeder Augenblick ist ein Wunder.
(Bruce Taylor, Professor für kreatives Schreiben an der Universität von Wisconsin)

Klingt hübsch, nicht? Und ist es auch. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, kann man wirklich jede Sekunde eine Idee für eine Geschichte auffangen.

Die Idee allein tut es aber nicht. Also kommt auch hier wieder das Handwerk ins Spiel. Hier sind die Empfehlungen:

Machen Sie Listen

Skizzieren Sie die Charaktere, den Plot (die Handlung), die gefühlsmäßige Stimmung usw. – ohne daß sie Ihre Ideen in Sätze oder Absätze fassen. Das kostet nur Zeit. Stichworte sind genug.

Schreiben Sie Stichworte auf, die Sie mit Glücklichsein verbinden, mit Leuten, die Sie bewundern oder hassen, mit Dingen wie Schule, Einkaufen oder sonst irgend etwas.

Eine Geschichte beginnt sich um diese Liste herum zu entwickeln, und wenn Sie Wörter auf Ihrer Liste verändern (was viel einfacher ist als ganze Sätze oder Absätze umzuschreiben), wird sich die Idee der Geschichte ebenfalls verändern.

Entwickeln Sie eine Liste von Ereignissen

Erinnern Sie sich an leidvolle, ungewöhnliche oder schwierige Abschnitte in Ihrem Leben. Suchen Sie sich einige dieser Ereignisse aus und schreiben Sie einen Absatz über jedes einzelne.

Probieren Sie »Clustering« aus

Wählen Sie ein Wort, das das Thema Ihrer Geschichte ist – das Ding, um das sich alles dreht.
Schreiben Sie das Wort in die Mitte eines großen Blattes Papier und ziehen Sie einen Kreis darum.
Fünf Minuten lang schreiben Sie um dieses Wort herum alle Wörter, die Ihnen spontan dazu einfallen, egal ob es eine Handlung ist, ein Bild, der Teil eines Gespräches oder etwas Abstraktes.
Versehen Sie auch diese Wörter mit einem Kreis und und ziehen Sie Linien und Pfeile zwischen den Wörtern, die eine Verbindung miteinander zu haben scheinen.

Führen Sie ein Notizbuch

Notizbücher sind »Brutkästen«. Ein Ort, an dem Sie zufällig gehörte Gespräche sammeln, ausdrucksstarke Redewendungen, Bilder, Ideen und Interpretationen bezüglich der Welt, die Sie umgibt.

Schreiben Sie regelmäßig, jeden Tag

Den Tip kennen wir schon. Schreiben Sie jeden Tag ein oder zwei Stunden lang, auch wenn Sie sich nicht danach fühlen.

Sammeln Sie Geschichten von jedem, der Ihnen über den Weg läuft

Schreiben Sie die erstaunlichen, die ungewöhnlichen, die fremdartigen, die unvernünftigen und unlogischen Geschichten, die Sie hören, auf und verwenden Sie sie für Ihre eigenen Zwecke. (Das Schreiben ist gemeint, wohlgemerkt. )

Analysieren Sie diese Geschichten und versuchen Sie die unterschwellige Bedeutung zu erfassen. Es ist nicht immer alles so, wie es scheint. Meist steckt mehr dahinter. Versuchen Sie den Geisteszustand der Menschen zu verstehen.

  • Eine Frau ist zickig? – Warum?
  • Ein Mann führt sich wie ein Macho auf? – Warum?
  • Ein Kind ist unerträglich? – Warum?

Und der letzte Rat im ersten Teil ist:

Lesen, lesen, lesen!

Lesen Sie alle guten Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die Sie sich überhaupt nur vorstellen können. Lesen Sie deren Bücher und lesen Sie sie wieder und wieder.

Versuchen Sie hinter deren Geheimnisse zu kommen.
Ist Thomas Mann Ihr Fall? Dann lesen Sie vor allem Thomas Mann.
Ist es eher Goethe? Dann lesen Sie Goethe.

Lesen Sie Carson McCullers, Luise Kaschnitz, Sylvia Plath, Annette von Droste-Hülshoff, George Sand, Daphne du Maurier, Agatha Christie, die Brontë-Schwestern, George Eliot, Selma Lagerlöf, Sigrid Undset, Colette, Virginia Woolf, Christa Wolf, Irmtraud Morgner – was Sie wollen und wieviel Sie wollen, aber lesen Sie.

Und wenn Sie dann so ein Kleinod finden wie dieses Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff, freuen Sie sich einfach.

Letzte Worte

Geliebte, wenn mein Geist geschieden,
So weint mir keine Träne nach;
Denn, wo ich weile, dort ist Frieden,
Dort leuchtet mir ein ewger Tag!

Wo aller Erdengram verschwunden,
Soll euer Bild mir nicht vergehn,
Und Linderung für eure Wunden,
Für euern Schmerz will ich erflehn.

Weht nächtlich seine Seraphsflügel
Der Friede übers Weltenreich,
So denkt nicht mehr an meinen Hügel,
Denn von den Sternen grüß ich Euch!


Schreiben Sie einen mitreißenden ersten Absatz!

In der heutigen Welt, die sich so schnell weiterentwickelt, daß man kaum folgen kann, muß der erste Satz sofort die Aufmerksamkeit Ihrer Leserinnen fesseln, und zwar mit etwas Ungewöhnlichem oder Unerwartetem, mit einer aufsehenerregenden Handlung oder einem Konflikt.

Beginnen Sie mit Spannung und Plötzlichkeit. Springen Sie unmittelbar und unverzüglich mitten in die Geschichte hinein.

Denken Sie daran, daß Kurzgeschichten immer kurz vor dem Ende beginnen.

Versuchen wir uns einmal an dem ersten: etwas Ungewöhnliches.

Was ist ungewöhnlich?

Ungewöhnlich ist alles, was uns nicht jeden Tag passiert, was uns nicht jeden Tag begegnet.

Das Gewöhnliche ist: morgens aufstehen, duschen, zähneputzen, zur Arbeit gehen, arbeiten, nach Hause kommen, essen, fernsehen.

Es liegt also auf der Hand, daß davon nichts in einem ersten Absatz einer Kurzgeschichte vorkommen sollte. Das wäre langweilig.

Also nehmen wir das Gegenteil: morgens nicht aufstehen, nicht duschen, nicht zähneputzen . . .

Hm. Scheint ein fauler, dreckiger Mensch zu sein, der uns da entgegenstarrt. Eine interessante Figur? Nicht unbedingt.

Das nächste wäre: nicht zur Arbeit gehen.

Ich beschloß an diesem Morgen, einfach nicht zur Arbeit zu gehen.

Das klingt zumindest vielversprechend, denn es sagt aus, daß die Hauptfigur etwas tut, das für sie ungewöhnlich ist.

Die meisten würden wahrscheinlich noch den zweiten Satz lesen, um zu erfahren, warum die Hauptfigur ihre Gewohnheiten an diesem Morgen ändert.

Jetzt kommt der zweite Coup:

Das Unerwartete

Ich beschloß an diesem Morgen, einfach nicht zur Arbeit zu gehen, sondern eine Kreuzfahrt zu machen.

Haben Sie das erwartet? Nein? Dann ist das ein guter Satz für den Anfang.

Spontane Kreuzfahrten sind eigentlich bei uns Normalsterblichen eher selten. Ich weiß auch gar nicht, ob das überhaupt geht, auf jeden Fall ist es eine Idee, die nicht jedem morgens beim Aufstehen kommt.

Nun fehlt uns noch

Die Aktion/Handlung

Ich nahm eine Schere und zerschnitt sämtliche Blusen, die ich je im Büro getragen hatte.

Haben Sie das schon mal gemacht? Also ich nicht. Somit erscheint diese Aktion doch sehr aufsehenerregend.

Und gleichzeitig ist es der Einsatz von »Show don’t tell«, denn was die Hauptfigur hier tut, trennt sie offensichtlich von ihrem vergangenen Leben ab. Es ist eine symbolische Aktion, die das Ende einer Ära beschreibt: der Ära der zufriedenen, braven, fleißigen Angestellten.
Ein neuer Mensch entsteht wie Phönix aus der Asche.

Das letzte der erforderlichen Elemente:

Der Konflikt

Das einzige Problem war: Woher sollte ich das Geld nehmen?

Das ist kein ungewöhnlicher Konflikt, eher ein Konflikt, den wir alle kennen, aber ein Konflikt muß auch nicht ungewöhnlich sein. Es muß einfach nur ein Konflikt sein.

Somit haben wir also jetzt:

Ich beschloß an diesem Morgen, einfach nicht zur Arbeit zu gehen, sondern eine Kreuzfahrt zu machen. Ich nahm eine Schere und zerschnitt sämtliche Blusen, die ich je im Büro getragen hatte. Das einzige Problem war: Woher sollte ich das Geld nehmen?

Das klingt doch gar nicht so schlecht. Und wie lange haben wir dafür gebraucht? Vielleicht fünf Minuten.

Es ist oft nicht einfach, sich etwas Ungewöhnliches aus dem Stegreif auszudenken, deshalb finde ich die Methode »Vom Gewöhnlichen, Alltäglichen zum Ungewöhnlichen, nicht Alltäglichen« sehr gut.

Was man gewöhnlich tut, jeden Tag, jede Minute, das weiß man, das kann man im Schlaf herbeten. Also schreiben Sie einfach alles auf, was Sie jeden Tag tun, so detailliert wie möglich, denn auch ein kleines Detail kann, wenn man das Gegenteil davon nimmt, der ungewöhnliche Anfang für eine Geschichte sein.

Eine Mutter beispielsweise, die jeden Morgen das Frühstück für ihre Kinder macht. Das wäre das Gewöhnliche, Alltägliche.

Nun kommen die Kinder morgens in die Küche – verschlafen und schon zu spät, weil die Mutter sie nicht geweckt hat –, und der Frühstückstisch ist nicht gedeckt. Die Mutter ist verschwunden.

Ist das nicht irgendwie erschreckend, überraschend, neu und ungewöhnlich? Gerade bei Müttern erwartet man keine Abweichung von der Routine, denn sie sind in ein festes Korsett gepreßt. Die Kinder sind ja von ihnen abhängig. Die meisten Mütter können sich dieser Verantwortung nicht einfach so entziehen, möchten es aber vielleicht – zumindest manchmal.

Sie tun es aber nicht. Was also ist geschehen, daß diese Mutter es getan hat?

Es könnte etwas Schlimmes sein. Ein Verbrechen könnte ihr zugestoßen sein oder – was viel, viel interessanter wäre – sie könnte ein Verbrechen begangen haben.

Sie sehen, das Nachdenken über die Möglichkeiten des Ungewöhnlichen und Unerwarteten führt von einem zum anderen, die Ideen sprudeln nur so.

Wollen Sie einmal versuchen, einen mitreißenden ersten Absatz zu schreiben, der direkt in die Geschichte hineinspringt?

Dann folgen Sie dem Schema:

  • Ungewöhnlich
  • Unerwartet
  • Aktion
  • Konflikt

Die Reihenfolge muß nicht die hier genannte sein. Sie können auch mit der Aktion beginnen oder mit dem Konflikt, mit dem Unerwarteten vor dem Ungewöhnlichen – das ist völlig egal. Sie können alles in einem einzigen Satz zusammenfassen (wenn er nicht zu lang wird) oder drei, fünf, sieben Sätze schreiben, darauf kommt es nicht an.

Mehr als fünf oder sieben Sätze sollten es für den ersten Absatz allerdings nicht sein. Generell sollte ein Absatz nicht mehr als fünf oder sieben Sätze beinhalten, denn beim Lesen läßt dann die Aufmerksamkeit nach. Nach spätestens sieben Sätzen sollte ein neuer Absatz beginnen, besser nach fünf, und am Anfang reichen auch drei – wenn sie prägnant sind.

Also: Denken Sie darüber nach, was das Langweiligste in Ihrem Leben ist, die schlimmste Routine, die Sie hassen – und dann nehmen Sie das Gegenteil und machen daraus eine Geschichte.


Charaktere entwickeln

Mit diesem Thema haben wir uns bereits in der Reihe »Wie baue ich einen Roman auf« beschäftigt, vor allem in der Figurenbeschreibung.

Da man in einer Kurzgeschichte weniger Figuren als in einem Roman hat, müssen die einzelnen Figuren noch genauer gezeichnet sein. Während man einen Roman mit einem großen Gemälde vergleichen könnte, das auf den ersten Blick unüberschaubar ist, ist eine Kurzgeschichte wie eine kleine, sorgfältig gemalte Miniatur, bei der jeder Strich zählt. Auch ein winziger Fehler könnte das ganze Bild zerstören und unbrauchbar machen.

In einer Kurzgeschichte zählt jedes Wort, jeder Buchstabe, denn allzuviele davon hat man nicht zur Verfügung. Im amerikanischen Sprachraum werden für eine Kurzgeschichte in etwa 3.000 Wörter veranschlagt, im Höchstfalle 7.500.

Nun ist die englische Sprache, und speziell ihr amerikanischer Abkömmling, oftmals wesentlich knapper in ihrer Ausdrucksweise, als es die deutsche Sprache sein kann. Deshalb würde ich auch 10.000 Wörter Länge oder sogar 15.000 Wörter im Deutschen noch als Kurzgeschichte gelten lassen. Ab etwa 20.000 Wörtern ist es dann ein Kurzroman oder eine Novelle.

Es kommt jedoch auf den Inhalt an.

Ihre Aufgabe als Autorin von Kurzgeschichten besteht darin, komplexe Persönlichkeiten auf die Bühne zu stellen und sie in der begrenzten Zeit ihrer Existenz kämpfen und nachdenken, siegen und verlieren, lachen und weinen zu lassen. Diese Charaktere müssen sich beim ersten Lesen einprägen und ein Bild vor dem Auge der Leserin entstehen lassen, das faszinierende neue Einblicke in das Leben enthält.

In einen Ausschnitt des Lebens, denn mehr ist eine Kurzgeschichte nicht: ein kurzer Ausschnitt, ein Blitzlicht, ein Augenschlag.

Um einen lebendigen, atmenden, facettenreichen Charakter zu entwickeln müssen Sie mehr über diese Figur wissen, als Sie je in der Geschichte verwenden können oder werden.

Hier ist eine Teilliste (eine solche Liste wird nie vollständig sein), die Charaktereigenschaften bzw. Details enthält, die zum Charakter gehören, und Ihnen vielleicht helfen kann, mit der Beschreibung anzufangen.

  • Name
  • Alter
  • Beruf
  • Äußeres Erscheinungsbild
  • Wohnung/Lebensumstände

 

  • Haustiere
  • Hobbys
  • Familienstand
  • Kinder
  • Temperament

 

  • Lieblingsfarbe
  • Freundinnen
  • Eßgewohnheiten/Bevorzugte Speisen, Getränke
  • Ängste
  • Schwächen/Macken/positive Eigenschaften

 

  • Gibt es etwas, das Ihr erfundener Charakter haßt?
  • Hat Ihre erfundene Figur Geheimnisse?
  • Erinnerungen, die das Verhalten der Figur heute noch beeinflussen?
  • Krankheiten?
  • Nervöse Gesten?
  • Schlafgewohnheiten

Wenn Sie so viel wie möglich über Ihre Figur wissen, wird es Ihnen leichter fallen, eine Geschichte um diese Figur zu spinnen. Dennoch braucht die Leserin nicht all das über Ihre Figur zu erfahren, was Sie selbst, die Autorin, wissen. Der Leserin müssen Sie nur das mitteilen, was wirklich wichtig ist.

  • Äußere Erscheinung. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Leserin sich ein Bild von Ihrer Figur machen kann.
  • Aktionen/Handlungen. Zeigen Sie der Leserin (»Show don’t tell«), wer Ihre Figur ist, indem Sie deren Handlungen beschreiben, nicht einfach Adjektive aneinanderreihen.
  • Sprache. Entwickeln Sie Ihre Figur als Person. Lassen Sie sie nicht einfach nur wichtige Details der Handlung ankündigen oder erklären.
  • Überlegungen/Gedanken. Versetzen Sie die Leserin in den Kopf Ihrer Figur. Zeigen Sie der Leserin dadurch unausgesprochene Gedanken oder Erinnerungen, Ängste, Hoffnungen.

Eine konkrete Figur

Zum Beispiel, sagen wir einmal, wir wollen eine Figur entwickeln, die Studentin sein soll, für eine Kurzgeschichte, die Sie gerade schreiben. Was wissen wir über sie?

Sie heißt Jenny, das ist die Kurzform von Jennifer Finkenstein. Sie haßt den Namen. Sie findet, er klingt zu vornehm. Sie ist 21, hat sehr helle, skandinavisch anmutende Haut, blaue Augen und lange, lockige rotblonde Haare. Sie ist 1,70m groß.

Im Gegensatz zu den Rothaarigen üblicherweise nachgesagten Verhaltensweisen ist sie eher zurückhaltend und gelassen. Sie liebt Katzen und besitzt zwei, Xena und Gabrielle. Sie studiert Biologie.

Jennifer spielt Klavier und photographiert gern als Hobby. Sie wohnt im Studentenwohnheim der Universität Konstanz am Bodensee. Sie ißt jeden Morgen Müsli und liebt Rooibos Tee. Wenn sie nervös ist, knabbert sie an ihren Fingernägeln. Ihre Mutter hat gerade Selbstmord begangen.

Das ist doch eine ganze Menge, was wir da zusammengetragen haben. Eine Figur, die man sich schon ganz gut vorstellen kann. Diese Informationen haben Sie als Autorin, aber es ist nicht unbedingt nötig, daß alles, was Sie wissen, auch die Leserin weiß.

Was ist zum Beispiel mit dem Selbstmord der Mutter? Spricht Jenny darüber? Wie wirkt sich die Belastung auf sie aus? Versucht sie das Geschehene zu verarbeiten oder verdrängt sie es eher? Da es erst kürzlich geschehen ist: Wer weiß davon? Wissen ihre Nachbarin im Studentenwohnheim und Kommilitonen an der Universität darüber Bescheid? Oder behält Jenny das alles für sich, weil sie so zurückhaltend ist?

Schreiben Sie eine Geschichte darüber, wie der übliche Tagesablauf von Jenny aussieht. (Das ist nicht die endgültige Geschichte, die Sie schreiben wollen, sondern es soll Ihnen nur Ihre eigene Figur, um die sich die Geschichte dann ranken wird, näherbringen. Sie schreiben diesen Tagesablauf also für die Schublade oder zum Wegwerfen, nicht um es als Geschichte zu verwenden.)

Wann steht sie auf? Was macht sie als erstes? Wie lange frühstückt sie? Was sagt sie zu ihren Katzen, wenn sie die Wohnung verläßt? Was erlebt sie an der Uni? Wann kommt sie zurück?

Nimmt sie sich die Zeit, mittags extra nach Hause zu kommen, um ihre Katzen zu versorgen und vielleicht gemütlich Mittag zu essen, oder bleibt sie in der Uni und ißt dort hastig in der Mensa? Sitzt sie allein oder mit anderen zusammen am Tisch?

Hat sie viele Freundinnen/Freunde? Ist sie beliebt? Mögen die Leute sie, weil sie nicht so viel sagt und sie deshalb nichts von ihr wissen? Oder mögen manche sie nicht, weil sie kaum je den Mund aufmacht?

Wie verbringt sie ihre Abende? Lernt sie und geht dann schlafen? Geht sie aus, trifft sich mit anderen, diskutiert das Weltgeschehen?

Was auch immer Sie dann für Ihre Kurzgeschichte als Ereignis wählen, das erzählt werden soll, es muß auf der Kenntnis all dieser Fakten beruhen.


Erzählperspektive

In Teil 3 haben wir die Figur entworfen, nun müssen Sie sich für eine Erzählperspektive entscheiden. Sie haben dafür verschiedene Perspektiven zur Auswahl, die erste, zweite und dritte Person. Wobei Sie jetzt wahrscheinlich schon überlegen, ob Sie je ein Buch in der zweiten Person gelesen haben.

Vermutlich nicht. Das ist sehr unüblich. Die zweite Person, also die Du-Perspektive, verwendet man eher in Briefen, vielleicht auch in Tagebüchern, weniger in Kurzgeschichten und Romanen.

Dennoch ist es durchaus möglich, so zu schreiben.

Egal, welche Erzählperspektive Sie wählen, eine Kurzgeschichte wird immer aus der Sicht einer einzigen Figur erzählt, das heißt, die Leserin verfolgt das Geschehen mit den Augen dieser Person.

Ich habe schon einmal etwas über Erzählperspektive und Erzählsprache geschrieben. Dort ging es jedoch mehr um die Sprache, die mit der Perspektive übereinstimmen muß. Dennoch müssen Sie sich, bevor Sie die Sprache einsetzen können, Gedanken über die Erzählperspektive machen.

Soll die Geschichte eher subjektiv klingen – was eine Kurzgeschichte selbstverständlich immer ist, weil man in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit keine objektive Abhandlung schreiben kann – oder eher distanziert?

Für sehr subjektive Darstellungen bietet sich natürlich die Ich-Perspektive an. Dennoch kann auch die Ich-Perspektive höchst distanziert klingen, wenn die Hauptfigur ein »hardboiled detective« ist oder ein »tough guy«. Diese harten Männer oder eher Jungs sind so weit entfernt von ihren Gefühlen, daß selbst in der Ich-Perspektive keine wirkliche Identifikation mit ihnen aufkommt. Wir finden sie bei Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Humphrey Bogart hat im Film viele dieser Figuren überzeugend dargestellt.

Diese Art zu schreiben ist für Frauen eher ungeeignet. Für uns sind Gefühle wichtig, und wir wollen sie nicht nur leben, sondern auch in unseren Geschichten darstellen. Ein von einer Frau in der Ich-Perspektive geschriebener Text wird deshalb selten distanziert klingen, sondern immer ihre eigene, die ihr eigene Sicht der Dinge darstellen, besonders ihre Gefühlswelt.

Selbst ein in der dritten Person von einer Frau geschriebener Text klingt oft so, als wäre er in der ersten Person geschrieben, denn die Hauptfigur kommt meist nicht über ihr eigenes enges Blickfeld hinaus. Es wird nur erzählt, was sie selbst sieht und erlebt, alles andere findet nicht statt. Diese »personale Erzählperspektive« könnte man fast mit der Ich-Perspektive gleichsetzen. Bei beiden Formen verschwimmt der Unterschied zwischen Autorin und Erzählerin. Es ist nicht auszumachen, ob die Hauptfigur ein »Alter Ego« (Anderes Ich) der Autorin ist, die Autorin dies also alles erlebt hat, oder ob sie eine rein fiktive Erzählerin ist, die eine erfundene Geschichte erzählt.

Im Gegensatz dazu steht die ebenfalls sehr gebräuchliche Form des »auktorialen Erzählens«. Die »allwissende Erzählerin« beschreibt alles, was zu der Geschichte gehört, egal mit welcher Figur es zu tun hat. Sie kann von einem Ort zum anderen springen, von einem Kopf in den anderen.

Das auktioriale Erzählen verlangt der Autorin sehr viel mehr Wissen über die handelnden Figuren ab als das rein personale Erzählen, egal ob in der ersten oder der dritten Person. Eine auktoriale Erzählerin muß jede einzelne Figur in- und auswendig kennen, sie darf sie nicht nur aus der Außenperspektive beschreiben, also so, wie beispielsweise die Ich-Erzählerin eine andere Person sieht, sondern sie muß auch das Innenleben jeder ihrer Figuren kennen.

Da auktoriales Erzählen so viel anspruchsvoller ist als personales Erzählen, wird es fast ausschließlich von professionellen AutorInnen verwendet. HobbyautorInnen und AmateurInnen verwenden praktisch immer die personale Erzählform, weil sie nicht in der Lage sind, von ihren eigenen Erfahrungen zu abstrahieren, sprich sich etwas außerhalb ihrer eigenen Erfahrung vorzustellen.

Schauen wir uns einmal die Unterschiede an.

Ich-Perspektive
Ich sah eine Träne ihre Wange hinunterlaufen. Noch nie hatte ich meine Mutter weinen sehen. Wenn ich ihr doch nur helfen könnte, dachte ich.

Personale Perspektive 3. Person

Sie sah eine Träne die Wange ihrer Mutter hinunterlaufen. Noch nie hatte sie ihre Mutter weinen sehen. Wenn ich ihr doch nur helfen könnte, dachte sie. (Oder unpersönlicher: Sie dachte darüber nach, wie sie ihrer Mutter helfen könnte.)

Auktoriale Perspektive

An diesem Tag weinte Henriettas Mutter. Es war das erste Mal, daß Henrietta ihre Mutter weinen sah.
Klaus stand daneben und beobachtete seine Schwester mit distanziertem Blick. Daß Frauen immer heulen müssen, dachte er.
Gleichzeitig wurde am anderen Ende der Stadt ein Kind geboren.

Schon aus diesen paar Sätzen wird offensichtlich, daß es bei den verschiedenen Perspektiven verschiedene Probleme zu bewältigen gilt.

Bei der Ich-Perspektive reicht ein einfaches »ich« und »sie«, um die Personen auseinanderzuhalten.

Schreiben Sie in der 3. Person, ist das schon nicht mehr so einfach, denn auch die Erzählerin wird in diesem Falle mit »sie« bezeichnet, also muß schon im ersten Satz klar zwischen »Sie«-Tochter und »Sie«-Mutter unterschieden werden.

In der auktorialen Perspektive können Sie frei von Person zu Person springen, von Ort zu Ort. Sie können erzählen, was am anderen Ende der Stadt passiert, obwohl Ihre Personen dort nicht sind und dieses Ereignis nicht miterleben, vielleicht sogar nie davon erfahren.

Die auktoriale Erzählform ist die freieste, aber auch die schwierigste, denn alles im Blick zu behalten, was an sämtlichen Handlungsschauplätzen geschieht, erfordert einiges an Planung und Übersicht.

Sowohl die Ich-Perspektive als auch die personale Sie-Perspektive sind sehr beschränkt, beschränkt in der Wahrnehmung der Ereignisse und auch in der Möglichkeit, Dinge zu erzählen, die zur Geschichte gehören, aber nicht direkt der Hauptperson geschehen.

In einer Kurzgeschichte, die sowieso nur aus einer sehr beschränkten Perspektive erzählt wird, sind sie sicherlich das Mittel der Wahl. Eine auktoriale Erzählweise ließe sich zwar einbauen, würde aber wohl recht gezwungen oder unnatürlich wirken. In sehr kunstvollen Kurzgeschichten gibt es das, für Anfängerinnen ist diese Aufgabe jedoch meist zu schwer. Das sollten Sie den Profis überlassen.

Am einfachsten ist es sicherlich, mit der Ich-Perspektive zu beginnen, später dann die Geschichte in die personale Sie-Perspektive umzuschreiben und ganz später, wenn Sie sich absolut sicher fühlen, die auktoriale Perspektive auszuprobieren. So tasten Sie sich langsam an die Kunst des Schreibens heran.


Schreiben Sie bedeutungsvolle Dialoge

Sorgen Sie dafür, daß Ihre Leserinnen die Pausen zwischen den Sätzen hören. Lassen Sie sie sehen, wie die Figuren sich vorlehnen, wie sie an den Nägeln kauen, den Blick abwenden, ihre Beine übereinanderschlagen.

Das alles können Sie in einen Dialog verpacken. Dialog ist das, was Ihre Figuren zueinander sagen. Er ist nicht nur dazu da, Informationen weiterzugeben, sondern auch, die Stimmung zu transportieren, Atmosphäre zu schaffen. Das ist sogar eine seiner Hauptaufgaben.

Leider verwenden viele Anfängerinnen Dialog dazu, höchst banale Aussagen zu machen – so wie man halt im täglichen Leben spricht. Das ist aber nicht die Aufgabe eines geschriebenen Dialoges. Ein geschriebener Dialog sollte immer Bedeutung haben, er sollte die Handlung voranbringen und die Figuren charakterisieren, sollte der Leserin langatmige Beschreibungen ersparen.

Wichtig ist auch: Jeder Sprecherin wird ein eigener Absatz zugeordnet. Sobald die Sprecherin wechselt, muß ein Absatz eingefügt werden.

Wir erhalten immer wieder Manuskripteinsendungen, in denen ein Absatz über eine ganze Seite geht, und innerhalb dieses Absatzes wechselt die Sprecherin, wechselt die Perspektive, werden sogar mehrere Personen eingeführt, ohne daß ein neuer Absatz eingefügt wird.

Ich frage mich, wie man darauf kommt, so zu schreiben. Merkt man das denn nicht selbst, daß das nicht geht, daß es kein Buch, das man liest, gibt, das so geschrieben ist?

So zu schreiben zeigt, daß die Schreiberin nicht schreiben kann, daß sie sich auch gar keine Gedanken darüber gemacht hat, wie man richtig Dialog schreibt, und führt normalerweise automatisch zur Ablehnung des Manuskriptes – bei jedem Verlag. Sobald ein Lektor oder eine Lektorin sieht, daß mehrere Personen im selben Absatz sprechen, wandert das Manuskript ohne Zwischenstation ins Ablehnungszimmer.

Ein Absatz kann durchaus etwas länger sein . . . wenn innerhalb des Absatzes dieselbe Person spricht (oder denkt). Auch kann ein Absatz alles enthalten, was diese Person tut. Aber niemals, absolut niemals, darf der Absatz fortgeführt werden, wenn die Person oder die Perspektive wechselt.

Beispiel 1:

»Wo gehst du hin?« Eva versuchte ihre Hände ruhig zu halten und schaute zu Boden. »In die Spielhalle.« Sabine ging auf die Tür zu, während sie Evas Hinterkopf im Auge behielt. »Nicht schon wieder.« Eva stand auf. »Der Dispo auf dem Konto ist schon weit überzogen.«

Ein so geschriebener Absatz ist verwirrend, weil man nie weiß, wer spricht, wann die eine aufhört zu sprechen und die andere anfängt. Das ist eine Zumutung für die Leserin.

Wenn die Absätze korrekt der jeweiligen Person zugeordnet sind, ist das alles viel übersichtlicher.

Beispiel 2:

»Wo gehst du hin?« fragte Eva gereizt.

»In die Spielhalle.« Sabine ging auf die Tür zu und versuchte herauszufinden, ob Eva aufgebracht genug war, sie diesmal zurückzuhalten.

»Nicht schon wieder«, sagte Eva, während sie darüber nachdachte, ob sie überhaupt noch genug Geld hatten, die Miete für diesen Monat zu bezahlen. »Der Dispo auf unserem Konto ist schon weit überzogen.«

Dieses zweite Beispiel ist zwar der äußeren Form nach korrekt, weil es für jede Sprecherin einen eigenen Absatz zur Verfügung stellt, aber die erzählenden Teile zwischen der direkten Rede sind so gut wie nutzlos.

». . . fragte Eva gereizt« ist ein Beispiel für »Beschreiben statt zeigen«, also das Umgekehrte, was man eigentlich machen sollte, nämlich »Show don’t tell« (Zeigen statt erzählen/beschreiben).

Man könnte das »Gereiztsein« auch noch weiter ausbauen: ». . . fragte Eva sehr gereizt« oder ». . . fragte Eva so nervös gereizt, daß ihre Stimme zitterte«, und es würde der Geschichte immer noch nicht mehr Sinn oder Bedeutung verleihen.

Um dieses »Beschreiben« im Dialog zu vermeiden, müssen Sie sich Gedanken darüber machen, wie Sie es durch »Zeigen« ersetzen können. Wie sieht eine Person aus, wenn sie gereizt oder nervös ist? Was tut sie dann? Woran erkennt man ihren Zustand?

Beispiel 3:

»Wo gehst du hin?« Evas Hände verkrampften sich auf dem Tisch.

»In die Spielhalle.« Sabine ging auf die Tür zu. Ihre Augen bewegten sich unruhig zwischen Eva und der Tür hin und her.

»Nicht schon wieder.« Eva stand auf. Ihre Lippe zitterte. »Der Dispo auf unserem Konto ist schon weit überzogen.«

In diesem Beispiel wird nirgendwo gesagt, daß beide – Eva und Sabine – nervös und angespannt sind, aber man spürt es, man erkennt den Konflikt zwischen ihnen deutlich.

Durch die Handlungen der beiden und dadurch, was von dem, was in ihnen vorgeht, äußerlich sichtbar wird, zeigt die Schreiberin weit mehr, als ein banales »gereizt«, »nervös« oder »ängstlich« ausdrücken könnte.

Dialoge beziehen die Leserin weit mehr in die Geschichte und das Geschehen ein als einfaches Erzählen. Sie zeigen Konflikte zwischen den Figuren auf und sind ein wichtiges Mittel zu ihrer indirekten Charakterisierung. Wir lernen die Personen durch das kennen, was sie sagen und wie sie es sagen.

Im Gegensatz zu einem »echten« Dialog zwischen Menschen, die sich widersprechen, unterbrechen, Monologe halten, wichtige Wörter wiederholen usw., ist der Dialog in einer Kurzgeschichte etwas Künstliches, ein Kunstprodukt, das um so echter aussieht, je mehr die Autorin daran gefeilt hat. Er zeichnet sich durch Kürze und Prägnanz aus.

. . . sagt Jack M. Bickham in seinem Buch »Short Story – Die amerikanische Kunst Geschichten zu erzählen«, das bei »Zweitausendeins« erschienen ist.

Ein Dialog in einem Buch ist demzufolge nicht nur die komprimierte Form eines realen Dialoges, wie er auf der Straße oder zu Hause stattfindet oder stattfinden könnte, sondern er erfüllt noch andere Funktionen. Er muß sich somit zwangsläufig von einem Dialog, wie wir ihn aus dem täglichen Leben kennen, unterscheiden.

Er muß besser sein, er muß ein Ziel verfolgen. Das Ziel, die Geschichte voranzubringen und die Leserin zu unterhalten und zu informieren, aber in einer Form, daß sie sich weder langweilt noch überfordert fühlt. Auch sollte die Leserin möglichst gar nicht merken, daß sie über den Dialog Informationen erhält, das sollte wie nebenbei eingeflochten werden.

Deshalb sind viele Anfängerinnen unfähig, Dialog zu schreiben, weil sie den realen Dialog mit dem geschriebenen Dialog verwechseln. Sie sehen den Unterschied nicht, weil ein gut geschriebener Dialog in einem gut geschriebenen Buch so erscheint, als könnte er auch im täglichen Leben so gesprochen werden.

Aber versuchen Sie das mal.


Szenischer Hintergrund (Setting)

Vor welchem Hintergrund spielt Ihre Geschichte? Das sollten Sie eindeutig festlegen.

Der Hintergrund kann sehr verschieden sein. Am einfachsten – vordergründig – ist es, einen historischen Hintergrund zu wählen (wobei »historisch« auch bedeuten kann: »heute, Jetztzeit«), das heißt, einen bekannten Hintergrund, unter dem sich jeder etwas vorstellen kann.

Zu diesen allgemein bekannten Hintergründen gehören zum Beispiel Kriege. Für »Krieg und Frieden« ist der Hintergrund die napoleonische Zeit von 1805 bis 1812, die mit dem katastrophalen Rußlandfeldzug Napoleons endet, für »Vom Winde verweht« ist es der amerikanische Bürgerkrieg von 1861-1865, für »Der Arzt von Stalingrad« ist es der 2. Weltkrieg von 1939-1945, usw.

Wählt man einen solchen Hintergrund, sind viele Dinge vorgegeben. Man kann den 2. Weltkrieg nicht einfach 1944 oder 1950 enden lassen, er endete 1945, das ist festgelegt. Auch wenn man auf Schlachten und Ereignisse aus dem Krieg eingeht, sollten diese stimmen. Wenn man diese Dinge nicht aus dem FF beherrscht, wird die ganze Geschichte unglaubwürdig.

Amerikaner, die bekanntermaßen von europäischer Geschichte keine Ahnung haben, machen sich durch ihre Unwissenheit oft lächerlich, wenn sie Geschichten einmal ausnahmsweise außerhalb Amerikas spielen lassen. So las ich kürzlich, daß ein amerikanischer Autor eine Geschichte im Deutschland des Jahres 1941 spielen läßt, wobei ein Konzert, das von Karajan dirgiert wird, eine Rolle spielt. Karajan wird in diesem Buch als 85jähriger Greis beschrieben, der kaum noch den Taktstock schwingen kann. Jedermann weiß, daß Karajan 1940 noch ein junger Mann war (er war gerade einmal Anfang Dreißig), kein Greis. Der Autor hat sich nicht die geringste Mühe gegeben zu recherchieren, und die Qualität des Buches ist entsprechend.

Wenn Sie also ein Werk vor einem historischen Hintergrund spielen lassen, recherchieren Sie gründlich, damit nicht alle Welt über Sie lacht wie über diesen dummen amerikanischen Autor.

Dasselbe gilt natürlich für den Ort. Wenn Sie eine Geschichte in einer Umgebung spielen lassen, die nicht Ihre eigene ist, recherchieren Sie gründlich, sonst geht es Ihnen wie einer Autorin hier im Blog, die eine Geschichte im reichsten Viertel New Yorks spielen ließ, aber behauptete, daß es dort von Pennern nur so wimmelte und die Straßen verdreckt wären. So etwas ist einfach nur peinlich. Vermeiden Sie solche Peinlichkeiten, wenn möglich, damit sich die Leserinnen auf Ihre Geschichte konzentrieren und nicht die ganze Zeit darüber lachen, was für Fehler Sie gemacht haben.

Deshalb ist es am einfachsten, eine Geschichte da spielen zu lassen, wo man sich auskennt, und zu einer Zeit, die man selbst erlebt hat oder gerade erlebt.

Der szenische Hintergrund, das Setting, setzt sich aus vier Komponenten zusammen: Zeit, Ort, Umgebung und Atmosphäre. In diesem Rahmen spielt die Handlung.

Beschreiben Sie genügend Einzelheiten, damit Ihre Leserinnen sich die Szene vorstellen können, aber achten Sie darauf, daß Sie nur Details beschreiben, die auch etwas zur Geschichte beitragen.

Wenn eine Person beispielsweise das Haus verläßt, beschreiben Sie nicht, wie sie ihre Jacke anzieht, warum sie die Jacke anzieht, wer ihr die Jacke mal geschenkt hat und warum. Es sei denn, die Jacke wird im nächsten Moment zum Mordinstrument. »Sie verließ das Haus« reicht.

Ganz wichtig: Beziehen Sie alle Sinne bei der Beschreibung des Settings mit ein, nicht nur, wie es oft Anfängerinnen tun, den Gesichtssinn, also die Augen. Wir sind sehr auf den Gesichtssinn konzentriert, Bilder sind für uns wichtiger als Wörter, aber das heißt nicht, daß wir uns darauf beschränken müssen.

Wir haben fünf Sinne (manche auch einen sechsten, wenn Sie wollen, können Sie den ruhig miteinbeziehen), und mindestens zwei davon sollten Sie bei der Darstellung der Umgebung und der Atmosphäre verwenden.

Die Protagonistin kann etwas sehen, hören, schmecken, riechen oder erfühlen, mit den Händen, mit ihrer Haut oder auch mit ihrem »sechsten Sinn«. Am besten ist es natürlich, wenn sie alle fünf (oder sechs) Sinne so einsetzen, daß die Leserin geradezu spürt, was die Protagonistin empfindet.

Ein kurzes Beispiel:

Es roch nach Rauch. Bettina drehte sich um. Sie sah eine dunkle Qualmwolke über dem Ende der Straße aufsteigen. Die Luft schmeckte nach Regen und Gefahr. Sie hörte die ersten Tropfen fallen, bevor sie ihr Gesicht berührten.

Hier sind nun alle Sinne vereint, sogar der sechste, denn wenn die Luft nach Gefahr schmeckt, ist das keine konkrete Empfindung, sondern etwas, das eher einer Vorahnung gleicht, es ist ein reines Bauchgefühl, das von unserer inneren Einschätzung der Situation ausgelöst wird.

Selbstverständlich müssen nicht alle Sinne für eine Beschreibung eingesetzt werden, aber ich glaube, man sieht hier sehr deutlich, wie nützlich die Sinneseindrücke sind. Kaum etwas anderes läßt so direkt eine Szene entstehen.

Wir sehen Bettina auf der Straße, und wir fühlen fast dasselbe wie sie.

Auch wenn es in diesem Beispiel so erscheint, als ob man der Leserin nicht genug Informationen geben könnte: Überfüttern sie die Leserin nicht damit. Informationen über die Wetterlage der vergangenen zwanzig Jahre, die Bevölkerungsdichte oder die exakte Entfernung zum nächsten Tante-Emma-Laden sind nicht notwendig.

Ersetzen Sie das Beschreiben von Einzelheiten durch Erfahrung. Lassen Sie die Leserin miterleben, was Ihre Protagonistin erlebt.

Unser Ausflug in die Wüste war sehr lehrreich. Durch die trockene Hitze klebte unsere Zunge am Gaumen, so daß wir stets das Gefühl hatten zu verdursten. Der wolkenlos blaue Himmel bildete den passenden Hintergrund für die blendende Sonne, die heiß herunterstrahlte. Als ein Sandsturm aufkam, verschlug es uns den Atem. Die feinen Sandkörner drangen uns in alle Poren. Noch schlimmer war es allerdings, als es plötzlich zu regnen begann und die ausgetrockneten Flußbetten sich schlagartig mit wild schäumendem, donnernd herbeiströmendem Wasser füllten, vor dem wir in Panik fliehen mußten, um nicht zu ertrinken.

Man muß nicht sagen: »Es war heiß und trocken«. Ein solcher Satz erzeugt keine Vorstellung in der Leserin. Wenn aber die Zunge am Gaumen klebt, haben wir sofort dasselbe Gefühl, selbst wenn wir gemütlich in unserem Zimmer vor einer Tasse Kaffee sitzen.


Einen Plot festlegen/entwickeln

Es ist etwas schwierig, den Begriff »Plot« ins Deutsche zu übersetzen. Oftmals nennt man es »Handlungsstrang« oder »Ablauf«, aber das trifft es nicht ganz.

Der Plot ist das, was passiert, der Ablauf der Geschichte, die Handlung(en). Das bedeutet, es ist die Art, wie Sie die Situation(en) inszenieren, wo die Wendepunkte der Geschichte verankert sind und was die Figuren am Ende der Geschichte tun werden.

Ein Plot ist eine Reihe von Ereignissen, die von Ihnen, der Autorin, ganz bewußt so arrangiert werden, daß sie ihre dramatische, thematische und gefühlsmäßige Bedeutung entfalten.

Plot ist somit kein Zufall, sondern in allererster Linie kühl überlegte Planung.

Wenn Sie also Ihre nächste Geschichte »plotten«, denken Sie an folgendes:

  • Explosion oder »Aufhänger«: Ein spannendes, ergreifendes, aufwühlendes und mitreißendes Ereignis oder Problem, das die Aufmerksamkeit der Leserin sofort fesselt.
  • Konflikt. Eine Figur kämpft gegen ihr eigenes inneres Selbst oder eine von außen an sie herantretende Herausforderung in Form eines Menschen oder widriger Umstände.
  • Exposition. Stellen Sie Hintergrundinformationen zur Verfügung, um die Charaktere im richtigen Zusammenhang zu sehen.
  • Komplikation. Ein Problem oder mehrere Probleme, die die Figur vom angestrebten Ziel fernhalten.
  • Verbindung. Ein Bild, ein Symbol, ein Dialog, die Absätze und Szenen miteinander verbinden.
  • Rückblende. An etwas erinnern, das vor Beginn der Erzählung in der Kurzgeschichte geschehen ist.
  • Höhepunkt. Die Handlung der Geschichte erreicht den Gipfel, den Scheitelpunkt.
  • »Falling action«. Zu deutsch: »Abfallende Handlung«, was es wieder nicht richtig trifft. Gemeint ist der Abbau der Spannung nach dem zuvor aufgebauten und überstandenen Höhepunkt.
  • Auflösung. Der innere oder äußere Konflikt wird gelöst.

All diese Voraussetzungen sollte eine Kurzgeschichte erfüllen, um spannend und fesselnd zu sein. Aber wie komme ich zu so einem Plot?

Wenn ich beispielsweise eine Ausgangssituation habe wie folgende: Die Lebensgefährtin der Protagonistin kommt eines Tages nach Hause und sagt, sie liebt sie nicht mehr, sie wird sie nun verlassen.

Was kann aus dieser Situation entstehen? Lassen Sie einfach alle Ideen zu, betreiben Sie »Brainstorming«, eigentlich »Gehirnsturm«, aber wir nennen es jetzt einfach mal »Ideensammlung«.

  1. Die Protagonistin wird ein »workaholic«, ein Arbeitstier.
  2. Die Protagonistin wird ein »sexaholic«, eine Nymphomanin, die sich nicht mehr auf Liebe einläßt, nur noch auf körperliche Befriedigung ohne gefühlsmäßige Anteilnahme.
  3. Die Protagonistin zieht in eine andere Stadt.
  4. Die Protagonistin sucht sich einen neuen Job.
  5. Sie müssen das Haus verkaufen.
  6. Die Protagonistin beginnt eine Therapie und verliebt sich in die Therapeutin.
  7. Die Lebensgefährtin kommt zurück, hat es sich anders überlegt und will wieder mit ihr zusammenleben. Die Protagonistin akzeptiert.
  8. Die Lebensgefährtin kommt zurück, hat es sich anders überlegt und will wieder mit ihr zusammenleben. Die Protagonistin akzeptiert nicht.
  9. Die Protagonistin begeht Selbstmord (für eine el!es-Geschichte natürlich nicht akzeptabel).
  10. Die Lebensgefährtin begeht Selbstmord.
  11. Die Protagonistin geht zu ihren Eltern zurück und zieht bei ihnen ein.
  12. Die Protagonistin lernt eine neue Frau kennen und wird glücklich.
  13. Die Protagonistin lernt eine neue Frau kennen und wird unglücklich.
  14. Die Protagonistin wandert nach Afrika aus.
  15. Die Protagonistin findet endlich zu sich selbst, gründet eine Sekte und wird Guru.

Der nächste Schritt wäre nun, aus den gefundenen Ideen eine auszuwählen und dann für diese Idee das nächste »Brainstorming« zu veranstalten.

Beispielsweise Punkt 15. Sie gründet eine Sekte. Die Sekte nimmt ihre ganze Zeit in Anspruch, also kann sie nicht mehr arbeiten gehen. Woher bekommt sie das Geld zum Leben? Okay, die Sektenmitglieder bezahlen sie dafür, daß sie so ein toller Guru ist. Sie kauft sich einen Rolls Royce. Und dann hat sie damit einen Unfall . . . Die Ärztin, die sie aus dem Wrack zieht, verliebt sich in sie. Aber der »Guru« will ja keine Liebe mehr, und zudem sieht die Ärztin zu sehr aus wie ihre Ex. Die Ärztin gibt aber nicht so leicht auf. Da kommen die Sektenmitglieder und bedrohen die Ärztin, weil sie ihren Guru nicht verlieren wollen . . .

Und so weiter, und so fort.

Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Dramatik und Spannung in eine Geschichte einfließen zu lassen.

Nur eins darf die Geschichte nicht sein: langweilig.


Konflikt(e) – das zentrale Element

Im Grunde genommen gilt alles, was in dieser Reihe über Kurzgeschichten gesagt wird, auch für Romane, nur beschränkt sich eine Kurzgeschichte eben auf eine viel kürzere Zeitspanne und weniger Personen, weniger Ereignisse (in der Tat normalerweise nur auf ein Ereignis).

Wenn ich einen Roman schreibe, ist es oft schwierig, die Spannung über den langen Zeitraum zu halten, dieses Problem entfällt bei einer Kurzgeschichte. Sobald das Ereignis abgearbeitet ist, ist die Geschichte zu Ende.

Ebenso gibt es in einem Roman immer wieder neue Konflikte, jede Figur hat einen oder mehrere, in einer Kurzgeschichte gibt es einen einzigen Konflikt, und das war’s.

Deshalb sollte dieser eine Konflikt richtig gut sein und für Spannung sorgen. Es ist sicherlich kein spannender Konflikt, wenn man sich fragt, ob man die schwarze oder die blaue Hose kaufen soll, das rote oder das weiße Kleid. Es muß schon etwas sein, daß eine selbst und auch die Leserinnen im Innersten berührt.

Konflikt ist das fundamentale Element von Fiktion, denn in der Literatur sind nur Schwierigkeiten interessant. Alles, was glatt läuft, ist höchst uninteressant. Deshalb ist auch der Alltag meist uninteressant, denn der läuft – trotz kleinerer Probleme – viel zu glatt ab. Es baut sich selten eine unerträgliche Spannung auf.

Am interessantesten sind meist die Dinge, die schon von Natur aus Spannung in sich tragen wie beispielsweise Sex und alles, was dazugehört, wie die Frage »Kriege ich sie? Kriege ich sie nicht?« oder Kampf. Der Kampf ums Dasein ebenso wie der Kampf um eine Frau oder der Kampf um Anerkennung.

Der Konflikt erzeugt die Spannung, die man braucht, damit die Geschichte überhaupt losgehen kann. Um diese Spannung zu erzeugen, benötigt man entweder einen Konflikt, der in der Persönlichkeit der Hauptfigur liegt oder zwei Charaktere, die einen Gegensatz zueinander bilden, Gegenspieler sind.

Es können innere oder auch äußere Schwierigkeiten sein, die zu Konflikten führen, aber Schwierigkeiten sind unabdingbar. Und es darf nicht von Anfang an klar oder vorhersehbar sein, wie die Schwierigkeiten gelöst werden. Als Leserin möchte man vom Geschriebenen gefesselt werden, so daß man sich kaum von den Seiten losreißen kann. Die Leserin muß sich bis zum Schluß fragen, wie die Geschichte wohl enden wird.

Mögliche Konflikte sind:

  • Die Protagonistin im Kampf gegen eine andere Person
  • Die Protagonistin im Kampf gegen die Natur (Wirbelstürme) oder Technik
  • Die Protagonistin im Kampf gegen die Gesellschaft
  • Die Protagonistin im Kampf gegen sich selbst

Und so weiter.

Hier eine kleine Checkliste, wie die Konflikte erzeugt und vorgestellt werden:

  • Geheimnis. Erklären Sie nur so viel, daß die Leserinnen gereizt werden weiterzulesen. Geben Sie niemals alles preis, worum es in der Geschichte geht. Zu viele Details sind ungesund. Je weniger desto besser. Aber es muß genug sein, um die Spannung zu halten.
  • Bevollmächtigung. Beide Seiten des Konflikts müssen genug Möglichkeiten erhalten, ihre Wünsche durchsetzen zu können. Es hat keinen Sinn, wenn eine Seite alle Möglichkeiten hat und die andere keine.
  • Steigerung. Erhöhen Sie laufend die Anzahl und verstärken Sie die Art der Widerstände und Hindernisse, mit denen die Protagonistin zu kämpfen hat.
  • Folgenschwere Taten. Fiktionale Charaktere werden für ihre Taten eher zur Verantwortung gezogen als wirkliche Menschen.
    Figuren, die Fehler machen oder böse sind, müssen oft dafür bezahlen, auch wenn das in der Realität viel zu selten der Fall ist. Und anständige Menschen werden, zumindest in fiktionalen Geschichten, meistens belohnt.
  • Überraschung. Erzeugen Sie ausreichend Komplexität, so daß die Leserinnen die Ereignisse nicht zu schnell vorhersagen können.
  • Identifikation. Unterstützen Sie die Identifikation der Leserin mit Figuren oder Szenarien, die auf angenehme (oder unangenehme) Weise die eigenen Wunschträume (oder Alpträume) der Leserin widerspiegeln.
  • Einsicht. Enthüllen Sie etwas über die menschliche Natur.
  • Allgemeingültigkeit. Präsentieren Sie eine Auseinandersetzung, die die meisten Leserinnen für wichtig und über den Augenblick hinaus bedeutungsvoll halten, auch wenn die Einzelheiten dieser Auseinandersetzung an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit stattfinden, eben dem Ort und der Zeit in der Geschichte.
  • Hoher Einsatz. Überzeugen Sie die Leserinnen davon, daß der Ausgang der Geschichte deshalb wichtig ist, weil viel auf dem Spiel steht.
    Die Hauptfigur der Geschichte, bei der Sie geschickt dafür gesorgt haben, daß sie den Leserinnen etwas bedeutet, könnte etwas sehr Wertvolles verlieren.
    Triviale Konflikte erzeugen meistens auch triviale Geschichten, also lassen Sie Ihren Konflikt nicht trivial sein.

Krise oder Höhepunkt aufbauen

Die Krise oder der Höhepunkt ist der Wendepunkt der Geschichte – der aufregendste oder dramatischste Augenblick.

Die Krise kann in einer Erkenntnis bestehen, in einer Entscheidung oder einer Auflösung. Die Figur, üblicherweise die Hauptfigur, also die Protagonistin der Geschichte, versteht plötzlich, was sie zuvor nicht sehen oder erkennen konnte, oder ihr wird auf einmal klar, was getan werden muß oder – wenn sie das schon vorher wußte, aber trotzdem nicht getan hat – entscheidet sich endlich dafür, es zu tun.

Hier dreht sich auf einmal alles um. Und der Zeitpunkt ist absolut entscheidend. Timing ist alles.

Wird die Krise zu früh eingeläutet, wird die Leserin darauf warten, daß es noch einen weiteren Wendepunkt gibt und diesen einfach nur für den ersten von mehreren halten. Wenn es also der einzige, alles entscheidende Wendepunkt sein soll, wäre das fatal, denn dann wird die Leserin zum Schluß enttäuscht sein.

Kommt der Wendepunkt jedoch zu spät, werden die Leserinnen sich bis dahin langweilen oder ungeduldig werden – und zudem erscheint die Protagonistin in diesem Fall als reichlich dumm, weil sie die entscheidenden Dinge nicht früher erkannt hat.

Die Krise oder der Höhepunkt und Wendepunkt sollte möglichst in einer Szene präsentiert werden, nicht einfach so hingeschrieben. Es ist der »eine Augenblick«, auf den die Leserinnen die ganze Zeit gewartet haben.

Ein gutes Beispiel ist der Wendepunkt in »Aschenputtel« (oder »Cinderella« – für die, die das Märchen nur als Disneyfilm kennen). Was ist der entscheidende Augenblick?

Nun, wenn der Schuh paßt. In dem Moment ist alles klar. In diesem Augenblick, auf den alle gewartet haben, wird sie belohnt für alles, was sie zuvor ertragen mußte, ihre Leiden haben ein Ende.

Eine gute Geschichte braucht einen Höhepunkt, aber es sollte kein zufälliges Ereignis wie ein Autounfall oder eine plötzliche Krankheit sein. Das sind nur Notfälle – außer wenn dadurch ein Konflikt entsteht oder vorgestellt wird, der das Interesse der Leserin an den Figuren erweckt.

Es sind nicht nur unerfahrene Schreiber, sondern auch Profis, die diese Regel immer wieder vergessen oder mißachten. Gestern abend haben meine Frau und ich gemeinsam einen Film angeschaut, der eigentlich gar nicht schlecht war, aber der Wendepunkt kam zu früh, und die Auflösung war banal und unbefriedigend.

So bleibt ein schlechtes Gefühl zurück. Wir fragten uns zum Schluß: »Ja, und warum hat er das jetzt alles getan? Was wollte er eigentlich erreichen? Was war sein Problem?«

Diese Fragen sollten selbstverständlich am Ende einer Geschichte beantwortet sein.

Ich weiß selbst nur zu gut, wie schwierig es ist, einen guten Wendepunkt zu finden und zu schreiben – und das auch noch zum richtigen Zeitpunkt. Einen kleinen Hinweis kann ich noch geben: Wenn man das Gefühl hat, man schreibt und schreibt und schreibt und irgendwie plappert man nur so vor sich hin . . . dann hat man den Wendepunkt definitiv verpaßt.

Die Bewegung zum Wendepunkt hin ist immer und ununterbrochen voller Spannung. Das heißt, jeder Satz, den man schreibt, ist bedeutungstragend. Also keine unnötigen Details aus dem Alltag beschreiben, keine Dinge, die ohnehin schon jeder weiß, sondern nur das, was einen Zusammenhang mit dem Wendepunkt hat und darauf zuläuft.

Deshalb ist es wichtig, den Wendepunkt zu kennen, bevor man ihn erreicht hat. Banal? Ja, aber trotzdem etwas, das man sich beim Schreiben immer wieder bewußt machen sollte.

Was wäre die Szene mit dem Schuh in »Aschenputtel«, wenn sich die Spannung bis dahin nicht aufbauen würde, wenn es eine Zufälligkeit wäre?

Es ist keine Zufälligkeit, die Szene ist mit Absicht dort, wo sie ist, und auf die Art, wie sie ist. »Es kann nur Eine geben« – und das wird durch den Schuh definiert.

Darum geht es die ganze Zeit in der Geschichte: diese Eine zu finden.

Das ist etwas, das uns allen sicherlich bekannt vorkommt, denn in jedem el!es-Buch geht es genau um dasselbe und nur darum.


Eine Lösung finden

Die Lösung des Konflikts. In Kurzgeschichten ist es oft schwierig, eine endgültige Lösung zu präsentieren – wir haben uns ja auch nur mit einem einzigen Konflikt, einem einzigen Ereignis beschäftigt, und es gibt noch viele andere Konflikte und Ereignisse, die damit verbunden sind.

Das ist das Prinzip der Soap Operas. Am Anfang gibt es einen – meist trivialen – Konflikt, der wird dann gelöst, aber da das Ganze ja bis Folge 10.000 weiterlaufen soll, müssen damit verbundene Konflikte erkannt und gelöst werden, immer weiter und weiter und weiter.

In einer Kurzgeschichte kann man das angeschnittene Problem vielleicht nicht endgültig lösen, aber da die Geschichte nach relativ wenigen Wörtern ein Ende finden muß, zeigt man beispielsweise, daß die Charaktere (oder der Hauptcharakter) sich zu ändern beginnt, daß die Figur die Dinge auf einmal anders sieht als am Anfang. Daraus kann man eine Entwicklung ableiten, die möglicherweise zu einer befriedigenden Lösung führt – irgendwo in der Zukunft.

Das erinnert mich an »Vom Winde verweht«. Die Leserinnen waren nie zufrieden damit, daß Rhett Scarlett am Ende verläßt, daß es keine Wiedervereinigung gibt, kein Verständnis, daß die große Liebe gescheitert sein soll. Obwohl es am Ende offensichtlich mehr Chancen für ein gemeinsames Leben gibt als je während der ganzen Zeit ihrer Bekanntschaft oder Ehe zuvor.

Die Entscheidung der Autorin Margaret Mitchell, das Ende offen zu lassen, hat Generationen von Leserinnen und Filmzuschauerinnen dazu bewogen, sich das Ende auszumalen, ihre eigene Phantasie spielen zu lassen. Und schätzungsweise haben sich alle eine Versöhnung von Scarlett und Rhett ausgemalt – was sonst? Aber trotzdem hat sich sicherlich jede eine andere Szene vorgestellt, andere Worte, andere Gesten, ein anderes Ende.

Dadurch waren die Leserinnen dann zum Schluß doch auf eine Art zufriedengestellt und das Buch, ebenso wie der Film, verlor nie seinen Zauber. Die ultimative Liebesgeschichte, die nie übertroffen wurde.

Das Schlimmste, was man tun konnte, war, eine Fortsetzung zu schreiben. Und lange Zeit haben das die Erben von Margaret Mitchell auch verhindert. Aber leider hat es dann irgendwann doch eine gegeben, das Buch »Scarlett«. So ziemlich das fürchterlichste Buch aller Zeiten und mehr als überflüssig. Und vor ein paar Jahren folgte dann noch das Buch »Rhett« – genauso schrecklich und genauso überflüssig.

Sicherlich hat »Vom Winde verweht« dadurch trotzdem nichts von seiner Kraft eingebüßt, aber man sollte es tunlichst vermeiden, die Fortsetzungen zu lesen.

Eine endgültige Lösung sollte also gut sein, sonst läßt man das Ende besser offen.

  • Ein solches »offenes Ende« ist eine der Möglichkeiten, wie man eine Geschichte enden lassen kann. Die Leser/innen bestimmen in diesem Fall die Bedeutung, das wirkliche Ende entsteht im Kopf des Publikums, es wird nicht auf Papier gebannt.

Beispiel:
Ihr Blick schweifte fort von der Stadt und hinauf in die Berge.

Wenn das der letzte Satz ist, werden alle, die das lesen, sich ausmalen, was diese Berge bedeuten oder was dort eventuell noch passieren könnte.

  • Eine zweite Möglichkeit wäre ein absolut eindeutiges Ende ohne die Spur eines Zweifels.

Der Tod bietet zum Beispiel eine Endgültigkeit, die nicht mehr aufgehoben werden kann:
Sie schaute hinunter auf die Leiche. Das war also das Ende der Geschichte.

Hier geht nichts mehr weiter. Tot ist tot. Und was auch immer der Protagonistin jetzt noch widerfahren wird, es hat nichts mehr mit diesem toten Körper zu tun, kann nichts an diesem Tod oder an den Umständen für diese tote Person ändern.

Es kann natürlich auch anders ablaufen, ohne Tod.
»Ich verlasse dich«, sagte sie. Sie nahm ihre Tasche und ging.

  • Das Ende kann auch, eine dritte Möglichkeit, eine Wiederaufnahme des Anfangs sein.

Vor 20 Jahren waren die beiden Hauptpersonen ineinander verliebt, die Zeit hat sie auseinandergebracht, die Liebe schien verschwunden, aber im Laufe der Geschichte hat es die Autorin geschafft, die beiden wieder zusammenzubringen, und das Ende ist:

»Weißt du, was ich gefunden habe?« Sie kam strahlend herein.
»Nein?« Ich blickte fragend.
»Schau mal hier.« Etwas klimperte.
»Autoschlüssel?«
»Ja, aber was für ein Auto. Sieh mal aus dem Fenster.«
Ich tat es, und da stand er: eine absolute Schönheit, mein Mazda MX5-Roadster, in dem wir damals unsere erste Ausfahrt unternommen hatten. Oder ein Zwilling davon. Mittlerweile war meiner schon lange auf dem Schrottplatz.
»Willst du?« fragte sie lächelnd und hielt mir den Schlüssel hin.
Ich nahm ihn wie in Trance, wir gingen hinaus und stiegen ein, und dann fuhren wir die Straße hinunter, hinein in den Sonnenuntergang, genau wie damals.

  • Und noch eine Möglichkeit: Monolog. Eine der Figuren kommentiert.

Beispiel:
Ich hätte mir gewünscht, er hätte sich noch von seiner Mutter verabschiedet, bevor er unter den Laster kam.

  • Das gleiche kann auch in einem Dialog passieren. Zwei Figuren unterhalten sich und markieren damit das Ende.

Es gibt noch weitere Möglichkeiten.

  • Auch ein Bild kann das Ende markieren und die Bedeutung der Geschichte klarmachen. Die Landschaft oder die Umgebung können dabei eine Rolle spielen.

Beispiel:
Das Wasser war verschwunden, und die Sonne schien, als hätte sie nie etwas anderes getan.

  • Symbolik. Details deuten auf eine Bedeutung über die wörtliche Bedeutung hinaus.

Beispiel:
Im strahlend blauen Himmel erschien eine Wolke, als wir am frühen Morgen auf die Hitze des Tages warteten.

Da ziehen wohl Wolken auf, wie man so schön sagt und damit nicht nur das Wetter meint. Wenn eine Geschichte so endet, sind die Probleme sicherlich noch nicht alle gelöst oder werden es auch nie sein. Es wird sich immer wieder alles wiederholen, was in der Geschichte angerissen wurde.

Ein solches Ende kann auch bedeuten, daß sich das Leben eben generell nicht ändert, auch wenn es einzelne Aspekte davon durchaus tun.


So, und damit ist die kleine zehnteilige Reihe über das Schreiben von Kurzgeschichten ebenfalls beendet.

Was das Schreiben betrifft, so ist auch ein Schreibratgeber immer nur mit einem offenen Ende versehen – kann es nur sein, denn jeder Mensch ist anders und schreibt anders. Es gibt keine endgültigen Ratschläge, nur Hinweise.

Ich hoffe, mit diesen Hinweisen können einige etwas anfangen – und vielleicht entsteht ja die eine oder andere Geschichte daraus. Das würde mich freuen.