Charaktere entwickeln

Mit diesem Thema haben wir uns bereits in der Reihe »Wie baue ich einen Roman auf« beschäftigt, vor allem in der Figurenbeschreibung.

Da man in einer Kurzgeschichte weniger Figuren als in einem Roman hat, müssen die einzelnen Figuren noch genauer gezeichnet sein. Während man einen Roman mit einem großen Gemälde vergleichen könnte, das auf den ersten Blick unüberschaubar ist, ist eine Kurzgeschichte wie eine kleine, sorgfältig gemalte Miniatur, bei der jeder Strich zählt. Auch ein winziger Fehler könnte das ganze Bild zerstören und unbrauchbar machen.

In einer Kurzgeschichte zählt jedes Wort, jeder Buchstabe, denn allzuviele davon hat man nicht zur Verfügung. Im amerikanischen Sprachraum werden für eine Kurzgeschichte in etwa 3.000 Wörter veranschlagt, im Höchstfalle 7.500.

Nun ist die englische Sprache, und speziell ihr amerikanischer Abkömmling, oftmals wesentlich knapper in ihrer Ausdrucksweise, als es die deutsche Sprache sein kann. Deshalb würde ich auch 10.000 Wörter Länge oder sogar 15.000 Wörter im Deutschen noch als Kurzgeschichte gelten lassen. Ab etwa 20.000 Wörtern ist es dann ein Kurzroman oder eine Novelle.

Es kommt jedoch auf den Inhalt an.

Ihre Aufgabe als Autorin von Kurzgeschichten besteht darin, komplexe Persönlichkeiten auf die Bühne zu stellen und sie in der begrenzten Zeit ihrer Existenz kämpfen und nachdenken, siegen und verlieren, lachen und weinen zu lassen. Diese Charaktere müssen sich beim ersten Lesen einprägen und ein Bild vor dem Auge der Leserin entstehen lassen, das faszinierende neue Einblicke in das Leben enthält.

In einen Ausschnitt des Lebens, denn mehr ist eine Kurzgeschichte nicht: ein kurzer Ausschnitt, ein Blitzlicht, ein Augenschlag.

Um einen lebendigen, atmenden, facettenreichen Charakter zu entwickeln müssen Sie mehr über diese Figur wissen, als Sie je in der Geschichte verwenden können oder werden.

Hier ist eine Teilliste (eine solche Liste wird nie vollständig sein), die Charaktereigenschaften bzw. Details enthält, die zum Charakter gehören, und Ihnen vielleicht helfen kann, mit der Beschreibung anzufangen.

  • Name
  • Alter
  • Beruf
  • Äußeres Erscheinungsbild
  • Wohnung/Lebensumstände

 

  • Haustiere
  • Hobbys
  • Familienstand
  • Kinder
  • Temperament

 

  • Lieblingsfarbe
  • Freundinnen
  • Eßgewohnheiten/Bevorzugte Speisen, Getränke
  • Ängste
  • Schwächen/Macken/positive Eigenschaften

 

  • Gibt es etwas, das Ihr erfundener Charakter haßt?
  • Hat Ihre erfundene Figur Geheimnisse?
  • Erinnerungen, die das Verhalten der Figur heute noch beeinflussen?
  • Krankheiten?
  • Nervöse Gesten?
  • Schlafgewohnheiten

Wenn Sie so viel wie möglich über Ihre Figur wissen, wird es Ihnen leichter fallen, eine Geschichte um diese Figur zu spinnen. Dennoch braucht die Leserin nicht all das über Ihre Figur zu erfahren, was Sie selbst, die Autorin, wissen. Der Leserin müssen Sie nur das mitteilen, was wirklich wichtig ist.

  • Äußere Erscheinung. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Leserin sich ein Bild von Ihrer Figur machen kann.
  • Aktionen/Handlungen. Zeigen Sie der Leserin (»Show don’t tell«), wer Ihre Figur ist, indem Sie deren Handlungen beschreiben, nicht einfach Adjektive aneinanderreihen.
  • Sprache. Entwickeln Sie Ihre Figur als Person. Lassen Sie sie nicht einfach nur wichtige Details der Handlung ankündigen oder erklären.
  • Überlegungen/Gedanken. Versetzen Sie die Leserin in den Kopf Ihrer Figur. Zeigen Sie der Leserin dadurch unausgesprochene Gedanken oder Erinnerungen, Ängste, Hoffnungen.

Eine konkrete Figur

Zum Beispiel, sagen wir einmal, wir wollen eine Figur entwickeln, die Studentin sein soll, für eine Kurzgeschichte, die Sie gerade schreiben. Was wissen wir über sie?

Sie heißt Jenny, das ist die Kurzform von Jennifer Finkenstein. Sie haßt den Namen. Sie findet, er klingt zu vornehm. Sie ist 21, hat sehr helle, skandinavisch anmutende Haut, blaue Augen und lange, lockige rotblonde Haare. Sie ist 1,70m groß.

Im Gegensatz zu den Rothaarigen üblicherweise nachgesagten Verhaltensweisen ist sie eher zurückhaltend und gelassen. Sie liebt Katzen und besitzt zwei, Xena und Gabrielle. Sie studiert Biologie.

Jennifer spielt Klavier und photographiert gern als Hobby. Sie wohnt im Studentenwohnheim der Universität Konstanz am Bodensee. Sie ißt jeden Morgen Müsli und liebt Rooibos Tee. Wenn sie nervös ist, knabbert sie an ihren Fingernägeln. Ihre Mutter hat gerade Selbstmord begangen.

Das ist doch eine ganze Menge, was wir da zusammengetragen haben. Eine Figur, die man sich schon ganz gut vorstellen kann. Diese Informationen haben Sie als Autorin, aber es ist nicht unbedingt nötig, daß alles, was Sie wissen, auch die Leserin weiß.

Was ist zum Beispiel mit dem Selbstmord der Mutter? Spricht Jenny darüber? Wie wirkt sich die Belastung auf sie aus? Versucht sie das Geschehene zu verarbeiten oder verdrängt sie es eher? Da es erst kürzlich geschehen ist: Wer weiß davon? Wissen ihre Nachbarin im Studentenwohnheim und Kommilitonen an der Universität darüber Bescheid? Oder behält Jenny das alles für sich, weil sie so zurückhaltend ist?

Schreiben Sie eine Geschichte darüber, wie der übliche Tagesablauf von Jenny aussieht. (Das ist nicht die endgültige Geschichte, die Sie schreiben wollen, sondern es soll Ihnen nur Ihre eigene Figur, um die sich die Geschichte dann ranken wird, näherbringen. Sie schreiben diesen Tagesablauf also für die Schublade oder zum Wegwerfen, nicht um es als Geschichte zu verwenden.)

Wann steht sie auf? Was macht sie als erstes? Wie lange frühstückt sie? Was sagt sie zu ihren Katzen, wenn sie die Wohnung verläßt? Was erlebt sie an der Uni? Wann kommt sie zurück?

Nimmt sie sich die Zeit, mittags extra nach Hause zu kommen, um ihre Katzen zu versorgen und vielleicht gemütlich Mittag zu essen, oder bleibt sie in der Uni und ißt dort hastig in der Mensa? Sitzt sie allein oder mit anderen zusammen am Tisch?

Hat sie viele Freundinnen/Freunde? Ist sie beliebt? Mögen die Leute sie, weil sie nicht so viel sagt und sie deshalb nichts von ihr wissen? Oder mögen manche sie nicht, weil sie kaum je den Mund aufmacht?

Wie verbringt sie ihre Abende? Lernt sie und geht dann schlafen? Geht sie aus, trifft sich mit anderen, diskutiert das Weltgeschehen?

Was auch immer Sie dann für Ihre Kurzgeschichte als Ereignis wählen, das erzählt werden soll, es muß auf der Kenntnis all dieser Fakten beruhen.