Schon wieder eine Woche rum, und es geht weiter mit dem Versuch, einen Roman in einem Jahr zu schreiben.

Zehn Wochen bereits, das sind zehnmal 1500 Wörter, das heißt, Ihr Computer muß bereits mit 15.000 Wörtern (in Worten: fünfzehntausend) heißgelaufen sein. 

Oder haben Sie zwar daran gedacht, einen Roman schreiben zu wollen, es aber nicht getan?

Fahren Sie manchmal mit dem Zug, und ohne daß Sie es wollen, können Sie es gar nicht verhindern, Ihre Mitfahrer zu belauschen?

Passiert mir immer wieder, und es ist ein Hort an Ideen, der sich da auftut. Ich habe mir früher schon einmal überlegt, mir nur allein deshalb eine Monatskarte zu kaufen, und einfach stundenlang mit dem Zug auf einer Strecke hin- und herzufahren, eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Den ganzen Tag.

Ich habe es dann doch nicht getan, aber eine Weile bin ich mit dem Zug zur Arbeit gefahren, und das hat auch schon gereicht.

Eines Abends fuhr ich von der Arbeit nach Hause, und weil es schon recht spät war und ich noch nichts gegessen hatte, setzte ich mich in den Speisewagen.

Drei Leute kamen aus dem hinteren Teil des Zuges hinzu, sie waren offensichtlich schon eine Strecke gefahren, sie sahen nicht wie die Kurzstreckenberufspendler aus, wie ich einer war, mit Aktentasche und Geschäftsanzug. Sie sahen eher aus wie Leute, die sich im Zugabteil kennengelernt hatten und sich genug mochten, um gemeinsam im Speisewagen essen zu gehen.

Ich saß, da ich allein war, an einem kleinen Tisch, und auf der anderen Seite des Ganges war ein größerer, ausreichend für vier Leute. Dorthin setzten sich die drei Fahrgäste, zwei Männer und eine Frau.

„Das ist ja interessant“, sagte der eine Mann zum anderen. „Sie schreiben einen Roman?“
„Ja“, erwiderte der andere. „Im Moment läuft es ganz gut.“
„Und wie lange schreiben Sie schon daran?“ fragte der andere.
„Seit fünf Jahren.“
„Ist das nicht sehr lange?“
„Ja, na ja ... Es läuft nicht immer so gut. Aber in letzter Zeit ging es wirklich gut voran“, fügte er zuversichtlich hinzu.

Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich wirklich, was der Schreiber fünf Jahre lang mit dem Roman gemacht hatte. Ein einziger Roman, wohlgemerkt, nicht mehrere. Fünf Jahre für einen einzelnen Roman, der noch nicht einmal fertig war.

Es gibt Geschichten, die schreiben sich leichter, und andere sind etwas sperrig. Ich habe auch Romane, die einfach nicht weitergehen wollen und die dann liegenbleiben. Aber dann schreibe ich eben etwas anderes, eine neue Geschichte, einen neuen Roman. Ich bastele nicht fünf Jahre an einem einzigen Roman herum und schreibe sonst gar nichts.

„Wissen Sie denn, wann Sie mit dem Roman fertig sein werden?“ fragte die junge Frau, die bei den beiden am Tisch saß.
Der Schreiber des Romans schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht so genau sagen, aber ich bin zufrieden, daß es im Moment so gut läuft. Ich schreibe ziemlich viel jeden Tag.“
„Aber wenn Sie schon so lange an dem Roman schreiben und auch so viel jeden Tag, dann müßte er ja schon tausend Seiten lang sein“, lachte die junge Frau.
„Ja. Ja, lang ist er schon“, gab der Mann zu.
„Und was fehlt noch?“ fragte die junge Frau.
Der Mann, der sich seit fünf Jahren mit dem Roman quälte, verzog schief das Gesicht. „Mir fällt einfach kein Plot ein“, sagte er.

Das heißt, dieser Mann schrieb seit fünf Jahren an einem Roman, der praktisch keine Handlung hatte, keine Geschichte. Er schrieb und schrieb, aber es war alles Unsinn, was er schrieb, nur sinnloses Geschreibsel, das nie zu etwas führen würde, denn er wußte eigentlich nicht, was er schreiben wollte.

Gerade vor einiger Zeit haben wir so einen Roman von einer jungen Frau zugeschickt bekommen. 250.000 Wörter. Können Sie sich das vorstellen? Zweihundertfünfzigtausend.

Meistens ist es schon ein schlechtes Zeichen, wenn ein Manuskript so lang ist. Allerdings nicht immer. Manche Autorinnen können tatsächlich 250.000 Wörter mit Inhalt füllen.

Diese junge Frau konnte es allerdings nicht. Es waren 250.000 Wörter sinnloses Geplapper. Sie hatte keinen Plot, keine Handlung, keine Dramaturgie, gar nichts. Offenbar hatte sie einfach so vor sich hingeschrieben, was ihr gerade einfiel.
Es gab nicht eine, sondern x verschiedene Geschichten. Jede Figur, die auftauchte, wurde erst einmal intensiv dargestellt. Zwar gab es eine sogenannte Hauptfigur – wie so oft vermutlich ein Alter Ego der Autorin selbst –, aber die stand nicht wirklich im Mittelpunkt.

Beispiel: Die Hauptfigur, nennen wir sie einmal Sam, arbeitet in einem Café. Dann kommt die Chefin des Cafés und sagt etwas zu ihr. Also wird erst einmal über die Chefin räsoniert, ihre Geschichte gleich auch noch erzählt. Dann kommt eine Freundin von Sam herein, und schon wird ihre Geschichte erzählt, in allen Einzelheiten.

Und so ging es dann die ganze Zeit weiter. Jede Figur, die auftauchte, bekam ein eigenes Kapitel, auch wenn die Figuren weder eine Bedeutung für die Geschichte hatten noch irgendwie interessant waren. Es gab keinen roten Faden und keine fortlaufende Geschichte, keinen Plot.

Ich dachte beim Lesen: »Irgendwann muß die Geschichte doch anfangen.« Aber das war ein Irrtum. Die Autorin hatte 250.000 Wörter geschrieben, ohne auch nur den Schimmer einer Geschichte oder eines Plots aufleuchten zu lassen.

Der junge Mann, der damals im Zug über seinen Roman sprach, hatte garantiert dasselbe Problem. Statt sich auf eine Geschichte zu konzentrieren, die er erzählen wollte, schrieb er einfach hin, was ihm so einfiel. Ohne Ziel und Überblick.

Was war nun der Fehler, den diese beiden gemacht hatten, sowohl der Mann im Zug als auch die junge Frau mit den 250.000 Wörtern?

Ich würde einmal vermuten, beide hatten wenig Lebenserfahrung. Sie waren entweder noch zu jung oder sie hatten es einfach versäumt, der Hauptaufgabe eines Autors und einer Autorin nachzugehen: zu beobachten und Material für Geschichten zu sammeln.

Wenn man noch nichts erlebt hat, wie soll man dann einen Roman schreiben? Und wenn man zwar viel erlebt hat, aber nicht aufgepaßt hat, nicht beobachtet hat? Dann geht es auch nicht. Aber das entscheidende ist und bleibt immer die Beobachtungsgabe.

Es gibt 15jährige, die aufgrund ihres jugendlichen Alters noch nicht allzuviel erlebt haben, aber so gute Beobachter sind, daß sie gute Geschichten schreiben können.

Und es gibt 50jährige, die ein durchaus interessantes Leben hinter sich haben, mit vielen Geschichten, die aber so schlechte Beobachter sind, daß es trotz des guten Materials nie einen guten Roman geben wird.

Wenn Sie in einem Café sitzen oder im Zug, im Bus, an der Bushaltestelle stehen, durch die Einkaufsstraßen laufen – beobachten Sie dann? Oder blenden Sie einfach alles aus?

Wie Sie sich denken können, ist letzteres keine gute Voraussetzung dafür, einen Roman zu schreiben.

Es mag sein, daß man sich neugierig vorkommt oder den Eindruck hat, andere Leute schauen einen merkwürdig an, aber das darf einen nicht stören, wenn man schreiben will. Denn ohne Material keine Geschichte.

Sie haben schon eine Idee für einen Roman? Sie haben sogar schon angefangen, weil Sie ja so große Lust hatten zu schreiben? Sie haben schon Dutzende von Seiten geschrieben und sind ganz stolz auf sich?

Gut. Aber haben Sie auch einen Plot? Ein Plot ist ein durchgängiger roter Faden, an dem sich alles ausrichtet. Normalerweise ist der Plot eng an die Hauptfigur geknüpft, das heißt, die Hauptfigur beginnt an einem Punkt, erlebt dann vieles, und am Ende des Romans hat sie sich verändert, hat etwas gelernt oder eine entscheidende Wende in ihrem Leben eingeleitet oder vollzogen.

Und etwas ganz Entscheidendes, was viele Leute vergessen: In einem Roman muß etwas passieren. Und was passiert, muß Folgen haben.

Stellen Sie sich vor, Sie lesen einen Roman oder sehen einen Film, und eine Figur sagt zur anderen: »Ich habe gerade einen Menschen umgebracht.« Daraufhin reagiert die andere Figur nicht oder sagt nur »Hmhm« und trinkt weiter ihr Bier.

Was bedeutet das? Ist das richtig so?

Es könnte natürlich ein dramaturgischer Trick des Autors sein, um zu zeigen, wie gefühllos die Welt ist oder so etwas in der Art, aber gehen wir einmal davon aus, das ist es nicht. Was ist es dann?

Einfach gar nichts. Unfähigkeit. Kein Ereignis, keine Reaktion.

Jedes Ereignis hat Folgen. Im täglichen Leben wie im Roman. Aber im Roman ist es ein absolutes Muß, diese Folgen auch darzustellen und in einen Plot zu packen.

Eine Geschichte von 250.000 Wörtern, in der der Romanfigur nie etwas wirklich Interessantes passiert, ist keine Geschichte. Nicht die Menge macht es, sondern der Inhalt.

»Aber ich habe doch gar nicht so viel erlebt«, könnten Sie jetzt einwenden. »Ich sitze nur hier und schreibe.«

Das ist in der Tat ein Problem. Ich sitze auch nur hier und schreibe. Während dieser Zeit erlebe ich eigentlich nichts. Nichts außer dem, was auf dem Papier stattfindet.

Deshalb eben ist es so wichtig zu beobachten, wenn man gerade nicht schreibt. Ich kann nicht aus dem Leeren schöpfen, ich muß etwas haben, was interessant oder aufregend genug ist, um die Leserinnen für mehrere Stunden beim Lesen zu fesseln.

Mein eigenes Leben, das kann ich Ihnen versichern, ist das nicht. Heute zumindest ist mein Leben lange nicht mehr so aufregend wie es vor zwanzig oder dreißig Jahren war. In jüngeren Jahren erlebt man meist mehr, und davon kann man dann, wenn man älter ist, zehren. Auch als Autorin.

Und trotzdem beobachte ich auch heute noch jeden Tag, soviel ich kann. Wenn ich über die Straße gehe, wenn ich Auto fahre, wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe. Es gibt immer etwas zu sehen und zu erfahren.

Aus jedem Menschen in der Schlange an der Kasse eines Supermarkts kann man eine Geschichte machen.

Man muß eben nur gut beobachten.