Das 1. Kapitel ist das schwerste. Denn um mit dem Schreiben anfangen zu können, muß man erst einmal eine Idee haben. Wäre dies ein allgemeiner Schreibkurs, würde ich Ihnen jetzt raten, nach einer Idee zu suchen.

Aber Sie haben es viel leichter, denn dies ist ein el!es-Schreibkurs. Also geht es hier um was? Ja, genau. Um lesbische Liebesromane. Sie haben also ein ganzes Jahr Zeit, um eine lesbische Liebesgeschichte zu schreiben. Kommt Ihnen das kurz oder lang vor?

Ob einem das kurz oder lang vorkommt, hängt sicherlich auch von der Erfahrung ab, die man mit Schreiben hat. Fängt man gerade erst an, kann einem die Zeit sehr kurz erscheinen, ist man eine erfahrene Autorin, reichen oftmals ein paar Wochen für einen Roman.

Wir haben hier genau ein Jahr, ob erfahren oder nicht, und ich denke, einen Versuch ist das wert. Setzen Sie die Meßlatte jedoch nicht zu hoch an. Sie müssen kein Meisterwerk schaffen. Falls es Ihr erster Roman ist, denken Sie daran, daß nur die wenigstens Erstlingsromane Meisterwerke oder auch nur »gute Romane« waren. Oftmals braucht man ein paar Anläufe, bis ein Roman so gut ist, daß er veröffentlicht werden kann.

Wenn Sie zu den Glücklichen gehören sollten, die gleich beim ersten Mal das große Los ziehen: Glückwunsch! Bei mir hat es drei Anläufe gebraucht. Meine ersten beiden Romane konnte ich in der Tat wegwerfen.

Jeder Weg, auch einer von tausend Kilometern, beginnt mit dem ersten Schritt, wie wir wissen. Wenn man diesen ersten Schritt nicht macht, wird man auch die tausend Kilometer niemals hinter sich bringen.

Und was ist der erste Schritt bei einem Roman? Der erste Satz.

Kommt Ihnen bekannt vor? Ja, stimmt, das mit den ersten Zeilen, den verfluchten ersten Zeilen, wie ich es genannt habe, haben wir hier auf der Webseite in der »Schreibwerkstatt« schon mit Erfolg betrieben. Also müßte es Ihnen ja sehr leicht fallen, diesen ersten Satz zu vervollständigen.

Da wir die Idee der lesbischen Liebesgeschichte schon haben, sollte der erste Satz wenn möglich gleich in diese Richtung gehen. Am einfachsten wäre ein Satz wie:

1. Sie trafen sich das erste Mal auf/bei/im . . .?

Auch die Perspektive aus der Sicht einer der beiden Personen ist möglich:

2. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich sofort . . .

Oder dasselbe in der 3. Person (was die bessere Wahl wäre):

3. Als Vanessa Carmen das erste Mal sah, dachte sie sofort . . .

Natürlich kann man die Erwartungen auch erst einmal enttäuschen. So beginnt einer meiner Romane mit dem Satz:

»Ich stehe nicht auf Frauen!«

Und der erste Satz von »Taxi nach Paris« lautet:

»Ich mag es, wenn die Frauen sich wehren!«

Übel, oder? 

Wichtig ist, die Aufmerksamkeit der Leserin zu wecken. Und auch wenn Schilderungen dafür im allgemeinen nicht empfohlen werden, kann man auch sie dazu verwenden.

A. »Es war ein schöner Morgen, auch wenn er überhaupt nicht zu Katharinas Stimmung paßte.«

Oder im Gegenteil:

B. »Es war ein schöner Morgen, der genau zu Katharinas Stimmung paßte.«

Auch ganz ohne die Beteiligung einer Person anzufangen ist möglich:

C. »Die Blätter rauschten, als ob sie mit dem Autolärm konkurrieren wollten.«

Und selbstverständlich kann man immer mit einem Dialog beginnen:

»Darf ich mich setzen?«
Corinna blickte vom Fenster des Flugzeugs, durch das sie das Treiben auf dem Rollfeld beobachtet hatte, wieder zurück in den Innenraum. Eine Frau stand in dem schmalen Gang zwischen den Sitzen und versuchte dem Druck der nachfolgenden Passagiere auszuweichen.
»Oh . . . ja . . . Entschuldigung.« Corinna raffte die Tüten zusammen, die sie auf den Sitz neben sich gestellt hatte. »Ich habe gar nicht daran gedacht –«
Sie stellte eine Tüte vor sich in den Fußraum, aber mehr Platz war dort nicht. Also wand sie sich mühsam aus dem Sitz heraus. Das heißt, das wollte sie, da sagte die andere Frau: »Geben Sie die Tüten mir. In der Ablage ist noch Platz.«
Corinna war einen Moment verwirrt, dann reichte sie der anderen Frau die Tüten. »Es ist einfach immer zu wenig Platz in diesen Fliegern«, sagte sie.

Das ist der Anfang der Schreibübung »Zwei Frauen treffen sich im Flugzeug« hier in der Schreibwerkstatt.

Ich denke, nun haben Sie einiges an Anregungen bekommen. Beginnen Sie mit dem ersten Treffen der beiden Frauen, egal wo und wie es stattfindet. Und in einer Woche sollten 1.500 Wörter (natürlich dürfen es auch mehr sein, aber nicht weniger) darüber geschrieben und hier in den Kommentaren eingetragen sein.

Viel Spaß! 


Nun, wie war Ihre erste Woche? Haben Sie die 1.500 Wörter geschafft? Oder war es schwierig, ins Schreiben hineinzukommen? Haben Sie – wie ich es oft mache – Haus, Wohnung, Garten und Kellerräume auf Vordermann gebracht, und alles blitzt und blinkt . . . bis auf das leere weiße Blatt im Computer?

Solche Vermeidungsstrategien kennt jeder Schriftsteller und jede Schriftstellerin zuhauf. Wenn man schreiben muß, dann fängt man plötzlich an, sich für Hausarbeit zu interessieren, obwohl sie sonst an letzter Stelle steht und die Wohnung schon im Müll versinkt. Und müßte nicht mal wieder die Garage aufgeräumt werden? Ja, und der Gartenzaun braucht auch einen Anstrich.

Es ist die Methode, die auch in dem Artikel »Die (Wieder)-Entdeckung der Faulheit« beschrieben wird. Es geht in dem Artikel nicht um Faulheit, es geht im Gegenteil um höchste Effizienz. Aber diese erreicht man, indem man den eigenen Hang zur Faulheit (den jeder Mensch hat, erzählen Sie mir nichts) nutzt.

Und bedenken Sie eins: Oftmals sind die intelligentesten Leute die faulsten. Sehen Sie es also als etwas durchaus Positives an, faul zu sein.

Wenn Sie schreiben wollen, setzen Sie das Schreiben als oberstes auf Ihre Liste. Das schlimme ist nur, die Faulheit sagt uns, das oberste auf der Liste, das tue ich erst mal gar nicht.

Somit ist also der Trick bei der Geschichte, das Schreiben nicht als oberstes auf die Liste zu setzen, sondern als zweites.

Da das Schreiben nicht die oberste Priorität hat (sondern zum Beispiel die Hausarbeit), werden Sie sich viel schneller Ihrem Roman zuwenden, als Sie schauen können – einfach um die Hausarbeit, die an erster Stelle steht, zu vermeiden. Und schon sind Sie ein Stück weiter.

Lesen und Schreiben

Sie müssen Ihre Faulheit ausnutzen, um sich die Zeit zu verschaffen, zu lesen und zu schreiben. Denn eins ist klar: Leute, die nicht lesen, können auch nicht schreiben. Wenn Sie es also selten oder sogar noch nie in Ihrem Leben geschafft haben, ein Buch zu Ende zu lesen, sollten Sie ernsthaft darüber nachdenken, ob Schreiben das richtige für Sie ist.

Wenn Sie nicht einen einzigen el!es-Roman gelesen haben, werden Sie schwerlich einen el!es-Roman schreiben können, denn Sie wissen ja gar nicht, was Sie schreiben sollen. Deshalb ist Lesen eine Grundvoraussetzung dafür, Bücher schreiben zu können. Natürlich nicht nur el!es-Romane. Sie sollten auch andere Bücher lesen, Sie sollten Bücher als einen der wichtigsten Teile Ihres Lebens betrachten und so viel lesen, wie Sie können.

Denn nur durch Ihre Leseerfahrung kommen Sie dazu, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie ein Buch auszusehen hat. Aber während des Schreibens lese ich persönlich nichts von anderen AutorInnen, das lenkt ab und beeinflußt den Stil. Es werden plötzlich Ideen in den Vordergrund gerückt, die nicht meine sind und die ich wieder loswerden muß, bevor ich weiterschreibe. Nein, Lesen während des Schreibens finde ich nicht gut.

Es gibt aber auch Leute, die sind der gegenteiligen Meinung. Sie meinen, man sollte gerade während des Schreibprozesses viel lesen, so viel wie möglich, um das eigene Schreiben zu befördern. Vielleicht ist das bei manchen so, vielleicht ist das auch bei Ihnen so, die Sie dies lesen, aber bei mir ist das nicht so, und deshalb gebe ich den Rat, erst einmal auszuprobieren, ob man es für sich selbst als nützlich empfindet, während des Schreibprozesses zu lesen. Und dann entscheiden Sie, ob Sie es tun oder nicht.

Wenn ich während des Schreibens lese, werde ich viel zu sehr vom Stil und von der Art des Autors oder der Autorin, die ich lese, beeinflußt. Als ich ein Teenager war und für die Schülerzeitung schrieb, habe ich beispielsweise Satiren im Stil von Kishon geschrieben, nachdem ich Kishon gelesen hatte. Ich war damals ein großer Kishon-Fan.

Eigentlich liegen Satiren mir gar nicht, aber trotzdem habe ich damals welche geschrieben, eben von Kishon beeinflußt. Aber das ist eigentlich nur Imitation, keine Kreativität. Ich war noch ein Kind und sehr beeinflußbar. Heute würde es mich stören, im Stil eines anderen zu schreiben. Deshalb lese ich nicht, während ich schreibe.

Davor allerdings und danach spricht nichts dagegen. Und interessanterweise lernt man aus schlechten Romanen mehr als aus guten. Weil es leichter ist, Schlechtes zu kritisieren, als es besser (oder auch nur genauso gut) zu machen, wenn ein Roman schon sehr gelungen ist. Außerdem sieht man an schlechten Romanen eben die eigenen Fehler. Bei anderen fallen sie einem auf, bei sich selbst nicht unbedingt. Deshalb sind gerade schlechte Romane sehr nützlich.

Gute Romane vermitteln einem oft eher das Gefühl »Das schaffe ich ja sowieso nicht« und halten eine dadurch eventuell vom Schreiben ab. Sicherlich kann man auch aus guten Romanen etwas lernen, aber ehrlich gesagt tatsächlich weniger als aus schlechten.

Was ist ein schlechter Roman? Nun, beispielsweise ein Roman, der die Erwartungen der Leserin enttäuscht. Es wird eventuell Spannung aufgebaut, etwas versprochen — und dann nicht eingehalten.

Also lesen Sie und versuchen Sie herauszufinden, ob es Ihnen hilft, besser zu schreiben. Wenn nicht, lassen Sie’s – zumindest für die Periode des Schreibens. Danach können Sie sich wieder auf alles stürzen, was Sie interessiert.


Immer wieder hört man: »Ich schreibe auch« beziehungsweise »Ich will auch schreiben« (oft ergänzt mit »Wenn ich mal Zeit habe . . .«)

Da stellt sich dann die Frage: »Warum wollen Sie einen Roman schreiben?«

Ist es das Bild des erfolgreichen Bestsellerautors oder der erfolgreichen Bestsellerautorin, die nur noch am Pool liegt und Margheritas schlürft, das Sie dazu bewegt, einen Roman schreiben zu wollen, oder ist es tatsächlich das Interesse am Schreiben?

Interesse am Schreiben und die glamouröse Vorstellung einer reichen und erfolgreichen Autorin (das scheint für viele auch immer Hand in Hand zu gehen) haben nämlich nicht viel miteinander zu tun.

Das erste, was mir gesagt wurde, als ich anfing zu schreiben und nach einem Verlag suchte, war: »Mit Schreiben verdient man kein Geld« oder auch »Mit Büchern wird man nicht reich«.

Das stimmt. Wenn man nicht gerade einen Millionenbestseller schreibt, wird man vermutlich mit Schreiben nie reich werden.

Aber kommt es darauf an, wenn man schreiben möchte? Kommt es für Sie darauf an, mit dem Schreiben Geld zu verdienen oder fühlen Sie einfach einen inneren Drang zu schreiben und sich der Welt mitzuteilen (wie klein auch immer diese Welt sein möge)?

Deshalb gibt es in dieser Woche nicht nur die Aufgabe, weitere 1500 Wörter im eigenen Roman zu schreiben (das wären dann jetzt insgesamt 4500 Wörter seit Beginn des Kurses, nur zur Erinnerung), sondern auch die oben gestellte Frage zu beantworten:

»Warum will ich überhaupt einen Roman schreiben«?

Die Antwort würde mich interessieren.


»Ein Roman ist der Gipfel der Literatur, der schwierigste Text, den man schreiben kann«, sagen die einen.

»Das ist doch alles nur erfundenes Zeug. Nichts Besonderes!«, sagen die anderen.

Zu welcher Meinung neigen Sie? 

Wenn Sie »nach Vorgabe« vorgehen, müßten Sie zu diesem Zeitpunkt 4500 Wörter geschrieben haben, und die nächsten 1500 Wörter in der ab jetzt beginnenden »Schreibwoche« in Angriff nehmen. Das nur zur Erinnerung für diejenigen, die gern hier im Schreibkurs mitmachen möchten, ohne offiziell am Schreibforum bei el!es (zu dem man extra eingeladen werden muß) teilzunehmen.

Im el!es-Schreibforum sind wir mittlerweile bei manchen Romanen schon recht weit, mein eigener neuer Roman ist bei ca. 10000 Wörtern angelangt. Auch für mich ist das Schreibforum eine große Unterstützung. Deshalb kann ich nur empfehlen, sich über das Schreiben mit anderen Schreibenden auszutauschen, das hilft sehr.

Doch zurück zu Phantasie und Realität. Ist Erfundenes einfacher zu schreiben als beispielsweise selbst Erlebtes? Meine Meinung dazu ist klar: Etwas aufzuschreiben, was man selbst erlebt hat, eine Reportage zu schreiben, das ist wirklich einfach, dafür braucht es nicht viel. Vor allem keine Phantasie. Aber eine Geschichte von vorn bis hinten zu erfinden, das ist eine Kunst.

Jeder Mensch versucht selbstverständlich das als besser darzustellen, was er selbst am besten kann (Sie erinnern sich: Der Artikel »Was meins ist, das ist gut«.) Nicht-Romanautoren haben in Wirklichkeit vielleicht furchtbare Minderwertigkeitskomplexe, weil sie keine Romane schreiben können, weil sie nur das aufschreiben können, was sie erleben, ohne jede Phantasie, aber in der Öffentlichkeit würden sie das natürlich nie zugeben. Deshalb behaupten sie einfach, es wäre nicht schwierig, einen Roman zu schreiben.

Dabei ist schon allein die Länge eines Romans ein Schwierigkeitsgrad, den die wenigsten bewältigen können. Wir bekommen wesentlich mehr Kurzgeschichten zugesendet als Romane.

Man hat auch nicht wirklich die Wahl, ob man nun Romanautorin ist oder Kurzgeschichtenautorin oder eine Dichterin, die Gedichte schreibt, oder auch eine Sachbuchautorin, die niemals einen Roman schreiben könnte, aber beispielsweise sehr gute Ratgeber. Das ist eine Frage der Begabung.

Eine der wichtigsten Eigenschaften einer Romanautorin ist deshalb Durchhaltevermögen. Ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte ist schnell geschrieben, ein Bericht oder eine Reportage auch. Aber ein Roman? Ein Roman benötigt nicht nur Tage oder Wochen, nein, er benötigt Monate oder vielleicht sogar Jahre.

Ich denke, ein Roman ist etwas für Menschen, die Herausforderungen lieben. Sich dieser langen Zeit zu stellen, seine Gedanken beieinander zu halten, sich nicht vom Ziel abbringen zu lassen, das ist wie den Kilimanjaro zu besteigen. Nur wenige halten durch.

Deshalb ist das Erfolgserlebnis dann hinterher um so größer. 

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei den nächsten 1500 Wörtern!


Die Frage nach dem »Warum will ich einen Roman schreiben?«, die im letzten Kapitel gestellt wurde, ist tatsächlich wichtiger, als man denkt. Einen Roman zu schreiben ist ein Traum, den man vielleicht hegt, man macht sich aber nicht unbedingt klar, daß das viel Arbeit und Lernen bedeutet. Es ist wie noch einmal die Schulbank drücken, und das ist für viele nicht das, was sie erstreben.

Lernen dauert lebenslang, es hört nicht mit dem Schulabschluß, dem Meisterbrief oder dem Universitätsabschluß auf. Und ebenso ist es mit dem Schreiben. Schreiben ist nicht etwas, das man lernt, und dann kann man es. Punktum. Es ist ein lebenslanges Weiterlernen, ein lebenslanges Sich-beschäftigen mit Menschen und mit Situationen, mit Problemen und Lösungen.

Ich habe mich schon oft mit Leuten unterhalten, die gern einen Roman schreiben würden, und die Frage nach dem »Warum?« bringt meistens ein großes Fragezeichen auf die Gesichter. Die meisten, das ist meine Erfahrung, wollen überhaupt keinen Roman schreiben, sie wollen ihr eigenes Leben aufschreiben.

Viele meinen anscheinend, was sie jeden Tag so in der Schule mit ihren Freunden erleben, wäre es wert, aufgeschrieben zu werden. Diesen Kindern muß ich ihre Illusionen leider rauben: Nein, liebe Kinder, so interessant ist euer Leben in der Schule nicht, auch wenn es alles ist, was ihr kennt.

Dasselbe gilt jedoch auch für Erwachsene. »Ich habe schon so viel erlebt, das müßte mal aufgeschrieben werden« ist oft der Grund dafür, warum Leute meinen, einen »Roman« schreiben zu wollen. Es ist auch ihr gutes Recht, ihr Leben aufschreiben zu wollen, aber ein Roman ist das leider nicht. Bei den meisten ist das Aufgeschriebene dann lange nicht so spannend, wie es das Leben vielleicht tatsächlich war.

Einen Roman schreiben heißt nicht, einfach nur das aufzuschreiben, was passiert ist, mehr oder weniger gut ein Tagebuch oder eine Art Bericht der Ereignisse zu erstellen, ein Roman bedeutet, eine neue Welt zu erschaffen.

Überprüfen Sie das, was Sie bis jetzt geschrieben haben, einmal unter diesem Aspekt. Ist es eine neue Welt, die Sie erschafffen haben, mit neuen, spannenden Figuren, oder ist es nur Ihre »alte Welt«, in der Sie leben oder gelebt haben, mit den Personen, die Sie kennen oder früher einmal kennengelernt haben?

Geschichten – und insbesondere Romane – entstehen aus der eigenen Vorstellungskraft, der Imagination. Imagination ist nicht Realität. Imagination ist reine Phantasie.

Dennoch basiert das alles natürlich auf der Realität und auf realen Menschen. Man schaut aus dem Busfenster und sieht eine Frau mit Schirm im Regen stehen, und plötzlich entsteht aus dieser realen Figur – die ich gar nicht kenne – eine Geschichte.

Wo kommt sie her? Wo geht sie hin? Warum steht sie im Regen, wenn sie doch auch im Trockenen sein könnte? Was hat sie erlebt? Was denkt sie? Was fühlt sie?

Können Sie diese Fragen für jede der Figuren in Ihrem Roman beantworten?

Die Faszination für Menschen ist eine Grundvoraussetzung für das Schreiben. Das Schreiben eines Romans erfordert das Erfinden vieler Figuren, vieler Lebensläufe, und deren Verbindung zu einem homogenen, glaubwürdigen Text. Wenn ich mich nur für mich selbst interessiere, werde ich andere Figuren weder erfinden noch beschreiben können. Oder sie werden sehr flach, sehr eindimensional.

Die Oberfläche ist jedoch nicht das, was an einer Figur interessiert, sondern das Innenleben.

Die Arbeit einer Schriftstellerin ist eben etwas anderes als die Arbeit in einem Kaufhaus, an einem Fließband oder als Sekretärin im Büro. Ich muß die Menschen beobachten und das nicht nur äußerlich, ich muß sie erkennen, muß wissen, was in ihnen vorgeht, denn wie will ich etwas schreiben, wenn ich nicht in die Geschichte und meine Figuren eintauche?

Das Erleben kommt vor dem Schreiben, auch das Leben kommt vor dem Schreiben. Wer nicht lebt und nichts erlebt hat, wer seine Umwelt nicht beobachtet und Menschen als das interessanteste im Leben betrachtet, als den Fundus, aus dem er schöpft, der wird kaum je ein gutes Buch zustandebringen. Er schmort höchstens im eigenen Saft (seiner eigenen Gedanken). Anregung von außen ist ungeheuer wichtig, Schreibende können nicht darauf verzichten.

Recherche ist eine gern vernachlässigte Komponente des Schreibens. Was man nicht kennt, darüber kann man auch nicht schreiben. Man muß eine Vorstellung davon haben, wo die eigene Geschichte spielt, deshalb ist es am besten, den Ort genau zu kennen, jeden Winkel erforscht zu haben. Man muß auch wissen, wie die Figuren denken und fühlen, bei einem Beruf, den man selbst nicht ausübt, muß man recherchieren und erfahren, wie es im beruflichen Umfeld meiner erfundenen Figur zugehen könnte, und so weiter, und so fort.

Neugier, Neugier, Neugier. Man kann es nicht oft genug wiederholen. Man kann nicht Schriftstellerin sein, ohne neugierig zu sein, und »Recherche« bedeutet nicht immer nur, das zu recherchieren, was man gerade im eigenen Buch behandelt. Erfahrene Schriftstellerinnen wissen das.

Ich recherchiere nicht nur für Geschichten, die ich gerade schreibe, ich interessiere mich einfach für so gut wie alles, ich lese Zeitungen und Zeitschriften, verfolge Unterhaltungen meiner Mitmenschen (egal ob sie mit mir reden oder mit jemand anderem. Ja, gut, ist vielleicht ein Schlag ins Kontor meiner guten Erziehung – ich weiß, daß man das nicht tut –, aber es ist einfach spannend, und meine Neugier wird immer wieder durch neue Geschichten und Ideen belohnt) und schaue auch im Fernsehen nicht nur die Geschichten selbst an, sondern versuche daraus etwas für mich und meine Arbeit zu ziehen.

Aber das alles wäre nichts, wenn der Roman nicht geschrieben würde. Und damit kommen wir zu dem eigentlichen »Warum« des Romanschreibens. Die eigentliche Antwort.

Das fängt an mit »Ich schreibe einfach gern« – schon mal ein guter Grund –, aber dann entwickelt es sich sehr schnell zu »Ich kann einfach nicht anders. Ich muß einfach schreiben. Die Geschichten wollen heraus.«

Und das ist und bleibt der entscheidende Punkt: Die Geschichten wollen heraus, sie schreiben sich selbst. Nicht wir als Autorinnen schreiben einen Roman, sondern er will geschrieben werden, er zwingt uns dazu, es ist unmöglich, es nicht zu tun.

»Wenn ich nicht schreibe, lebe ich nicht.« Schreiben ist Leben.

Das ist ein Gefühl, das wohl jede Schreibende kennt: Die Geschichte will mich, ob ich will oder nicht.


Was halten Sie von der Wahrheit? Denken Sie, beim Schreiben ist es wichtig, die Wahrheit zu sagen? Die ganze Wahrheit, zum Beispiel auch über das eigene Leben?

Ich glaube, wir können es nicht verhindern, die Wahrheit zu sagen, auch über uns selbst, wenn wir schreiben, selbst wenn wir nur Geschichten erfinden. Der eigene Charakter, die eigene Persönlichkeit scheint immer durch bei allem, was wir tun, was wir sagen und auch, was wir schreiben.

Sobald ich von jemand eine Mail erhalte, mache ich mir ein Bild von ihm oder ihr. Der Stil vermittelt einen Eindruck darüber, ob jemand nett oder eher fies ist. Viele Leute machen sich das nicht bewußt.

Und noch schlimmer ist es bei einem Roman, einem langen Text mit einer Geschichte, die ich entweder selbst erlebt oder selbst erfunden habe.

Deshalb denke ich auch, daß es Quatsch ist, was einmal in dem Film »Besser geht’s nicht« mit Jack Nicholson und Helen Hunt behauptet wurde: nämlich daß ein griesgrämiger, menschenfeindlicher Mann (von Jack Nicholson gespielt) als Autor solche hinreißenden, gefühlvollen Liebesromane schreiben kann, daß alle Welt ihm zu Füßen liegt und sich die Augen ausweint vor lauter Romantik und Emotionalität.

Außerdem — darüber muß man sich keine Illusionen machen — liegt keinem Autor und keiner Autorin die Welt derartig zu Füßen. Das wird nur immer in Filmen und Romanen behauptet. Aber das ist ein anderes Thema. Jedesmal, wenn ich sehe, wie Verleger und Autoren in Filmen dargestellt werden, stellen sich mir die Haare auf. Die haben alle ein riesiges Haus, Ländereien, Dienerschaft und besitzen Millionen. Davon können wir Normalautoren und -verleger nur träumen. Wahrscheinlich sind das die Träumereien der Drehbuchautoren selbst, die gern so leben würden und hoffen, dadurch, daß sie es hinschreiben und immer wieder neu behaupten, würde es vielleicht einmal wahr. 

Also auch da wieder spielt die Wahrheit eigentlich keine Rolle. Es wird das in die Geschichte gepackt, was man sich wünscht, nicht das, was wirklich real ist.

Und genau daraus bestehen die meisten wirklich guten Geschichten: aus Geheimnissen. Geheimen, verborgenen Wünschen, die wir nicht preisgeben, aber dennoch beispielsweise in einer Geschichte Wirklichkeit werden lassen.

Eine Autorin sagte einmal: »Ich schreibe deshalb Geschichten mit Happy End, weil das Leben schon hart genug ist.«

Genau darum geht es. Die Wahrheit ist nicht wichtig, die Geschichte ist wichtig. Während ich eine Liebesszene schreibe, empfinde ich diese Liebe, auch wenn vielleicht überhaupt niemand da ist, mit dem ich sie teilen kann.

Die Kunst dabei ist, die Geheimnisse, die in uns schlummern und die eine nie versiegende Quelle von Geschichten sind, die wir erzählen können, so zu schreiben, daß es sich nicht wie eine schlecht geschriebene Autobiographie liest. Denn — wie gesagt — wir schreiben alle mit unserem Herzen und unserer Seele.

Aber »Autobiographische Bücher sind die schlechtesten«. Es sind eben eigentlich keine »richtigen« Bücher, sondern es ist nur ein Tagebuch. Tagebücher gehören in die Schublade, nicht in ein gedrucktes Buch (es sei denn, es sind interessante KünstlerInnenbiographien, aber das sind ja die wenigsten).

Der »Mantel« ist das wichtigste. Etwas Selbsterlebtes als Ausgangspunkt zu nehmen ist nichts Schlimmes, es aber dabei zu belassen, das ist schlimm. Die meisten Geschichten, die man schreibt, speisen sich aus dem Fundus unserer Erlebnisse, aber sie dürfen nicht darauf beschränkt bleiben.


Haben Sie es geschafft, eine eigene Geschichte zu erfinden und bis jetzt schon einiges davon geschrieben? Bei den angepeilten 1500 Wörtern pro Woche müßten Sie dann jetzt bereits 6000 Wörter Ihres Romans haben.

Oder hatten Sie keine Idee, wußten nicht, wie Sie anfangen sollten und sind somit schon vor dem ersten Wort steckengeblieben? Dann wäre es vielleicht gut, eine kleine Übung einzuschieben.

Eine Übung könnte beispielsweise sein, einen Unfall zu beschreiben, den man selbst erlebt hat, insbesondere die Reaktionen der Umstehenden oder Vorbeifahrenden. Haben Sie schon mal einen Unfall am Straßenrand gesehen und dann beobachtet, wie die meisten Autofahrer einfach vorbeifahren, ohne sich darum zu kümmern?

Und dann das andere Extrem: Die Gaffer. Sie holen extra noch die Kamera heraus, um nur ja nichts von dem grausigen Geschehen zu verpassen und später dann vor ihren genauso gefühllosen Freunden zu Hause damit zu prahlen, was sie gesehen haben. Auf den Gedanken zu helfen kommen sie nicht.

Das sind beides Geschichten, die man schreiben könnte. Selbst wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Noch schlimmer und eindringlicher allerdings, wenn man sie selbst erlebt hat.

Eines Tages fuhr ich beispielsweise eine Straße im Elsaß entlang, langsam und ohne einen Gedanken an etwas Böses, als plötzlich vor mir ein alter Mann mit seinem Wagen abbog. Direkt vor mir. Ich konnte nicht mehr bremsen, obwohl ich langsam fuhr. Mein Auto war Totalschaden, der alte Mann hatte seine Frau im Wagen, die zwar angeschnallt gewesen war, aber durch den Gurt hatte sie sich eine Rippe gebrochen und die hatte sich in sie hineingebohrt, sie konnte kaum mehr atmen.

Und während das alles wie ein wahnsinnig schneller Film vor mir ablief, schrie mein Wagen wie ein verwundetes Tier, weil die Hupe sich verklemmt hatte. Es war eine grauenhafte Erfahrung. Ich stand unter Schock, alle anderen Beteiligten auch, aber eine Frau, die mich am Straßenrand stehen und auf mein zertrümmertes und laut schreiendes Auto starren sah, kam auf mich zu und sagte immer wieder zu mir: »Beruhigen Sie sich. Regen Sie sich nicht auf. Das ist nur materieller Schaden. Seien Sie froh, daß Ihnen nichts passiert ist. Das ist nur materiell, nur materiell.«

Meine Hände waren von den herausschießenden Airbags verbrannt worden, mein Daumen war durch den Aufprall auf das Lenkrad verstaucht und fühlte sich sehr locker an, fast als wäre er gebrochen, und ich hatte ein leichtes Schleudertrauma und Prellungen an Armen und Beinen, das war in der Tat alles. Sie hatte recht. Aber ich zitterte, während ich da stand, und ich war sehr dankbar für ihre Gegenwart und Fürsorge.

Aber es gab auch andere, die nur herumstanden und gafften.

Bis heute habe ich diesen Unfall nicht vergessen, und mein Herz fängt an zu rasen, wenn ich ein Bild des Unfalles sehe. Meine Frau, die ich per Handy angerufen hatte, hatte ein paar Bilder gemacht, als sie dann kam. Ich hatte sie darum gebeten, die Kamera mitzubringen. Wegen der Versicherung.

Unfälle sind in der Tat gutes Material für einen Roman, aber ich weiß nicht, ob ich diesen Unfall verwenden würde, denn er geht mir immer noch zu nah.

Aber Unfälle geschehen eben, und manchmal enden sie tragisch wie der des Mädchens, das ein Auge verlor, weil sie zu Sylvester auf der Straße stand und eine Rakete, die in eine Flasche gesteckt worden war, umfiel und sie traf. Eine solche Geschichte in einem Roman zu verarbeiten, wäre eine interessante Aufgabe. Hätte es anders verlaufen können? Wenn sie früher nach Hause gegangen wäre, hätte sie ihr Auge noch. Was hätte noch geschehen können? Usw.

Selbstverständlich könnte ich auch die Originalszene meines Unfalls abwandeln. Was wäre geschehen, wenn ich nicht zufällig zu dieser Zeit an diesem Ort gewesen wäre? Was wäre geschehen, wenn jemand gestorben wäre? Es ist alles eine Frage der Phantasie, und das bleibt ganz Ihnen überlassen.

Wenn Ihnen die Beschreibung eines Unfalls nicht liegt, gibt es noch eine zweite Übung. Da geht es um etwas anderes, nämlich darum, wie verloren Sie sich vielleicht einmal in einer Liebesbeziehung gefühlt haben.

Wie war das damals mit Ihrer ersten Beziehung? Zuerst die große Liebe und dann die große Verlorenheit? Oder wie war es, als Sie nur die drei kleinen Worte »Ich liebe dich« hören wollten, sie aber nie zu hören bekamen? Oder sie klangen einfach nur falsch? Hatten Sie auch manchmal das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein? Etwas verpaßt oder nicht mitgekriegt zu haben? Die Erwartungen der anderen nicht erfüllen zu können? Oder die eigenen Erwartungen zu hoch geschraubt zu haben, zu anspruchsvoll zu sein? Und sich trotzdem danach zu sehnen?

Oder war es eher die Situation zu erfahren, daß man betrogen wird? Daß man dachte, zu lieben und geliebt zu werden, und dann erfährt man, da ist eine andere? Oder viele andere? Daß man nicht die einzige und Liebe vielleicht nur ein Wort ist? Nur ein Schulterzucken und ein »Was hast du erwartet?« erntet, wenn man es zur Sprache bringt?

Ja, was haben Sie wirklich erwartet? Und nicht bekommen?

Somit heißt die Übung also: »Wie verloren ich mich in meiner Liebesbeziehung gefühlt habe (oder fühle)«.


Sie sind nun 8 Wochen dabei und versuchen jede Woche 1500 Wörter Ihres Romans zu Papier zu bringen – oder wohl eher zu Computer. Und eins werden Sie dabei sicherlich festgestellt haben: Woher nimmt man die Zeit zum Schreiben? Eigentlich hat jeder von uns ja schon genug zu tun und die Zeit vergeht viel zu schnell.

Dagegen kann weder ich noch dieser Kurs etwas machen. Ich kann Ihnen nur Hinweise zum Schreiben selbst geben, Ihnen die eine oder andere Übung zeigen, aber Zeit – Zeit kann ich Ihnen nicht verschaffen.

Ein Buch zu schreiben ist eine Arbeit der Liebe. Es ist nicht wie irgendein Job, den man zu Ende bringen muß, es ist etwas, das uns Schreibenden am Herzen liegt. Deshalb tun wir es. Oftmals ist das aber auch genau der Knackpunkt: Wir nehmen uns nicht die Zeit fürs Schreiben wie wir sie uns für einen Job nehmen, für den wir bezahlt werden. Wir stellen das Schreiben hintenan „wenn wir einmal Zeit haben“.

Wie jeder Mensch weiß, verbringen wir alle viel Zeit mit Dingen, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind, ja uns manchmal noch nicht einmal Spaß machen. Fernsehen zum Beispiel. Auf eine lustige, informative oder wirklich wichtige oder unterhaltsame Sendung kommen mindestens hundert, die wir uns ansehen, weil wir gerade vor dem Fernseher sitzen und nicht aufstehen wollen oder weil wir uns so daran gewöhnt haben, vor dem Fernseher zu sitzen, daß wir es automatisch tun.

Es gibt einen schönen Loriot-Sketch dazu, den sicherlich alle kennen. Ein Ehepaar in mittleren Jahren sitzt auf der Couch vor dem Fernseher. Nur – der Fernseher ist kaputt, das heißt, sie sitzen auf der Couch, weil sie eben jeden Abend auf der Couch sitzen, den Blick starr nach vorn auf den Fernseher gerichtet, aber der Fernseher läuft gar nicht, weil er eben kaputt ist.

Dann fangen sie an, sich darüber zu unterhalten, was man alles tun könnte, wenn man nicht fernsehgucken würde.

Loriot

»Fernsehabend«

Frau: Wieso geht der Fernseher denn gerade heute kaputt?
Mann: Die bauen die Geräte absichtlich so, daß sie schnell kaputtgehen.
Frau: Ich muß nich’ unbedingt fernsehen.
Mann: Ich auch nicht. Nicht nur, weil heute der Apparat kaputt ist, ich meine . . . sowieso, ich sehe sowieso nicht gern Fernsehen.
Frau: Es ist ja auch wirklich nichts im Fernsehen, was man gern sehen möchte.
Mann: Heute brauchen wir Gott sei Dank überhaupt nicht erst in den blöden Kasten zu gucken.
Frau: Neh. Es sieht aber so aus, als ob du hinguckst!
Mann: Ich?!
Frau: Ja!
Mann: Nein. Ich sehe nur ganz allgemein in diese Richtung! Aber du guckst hin! Du guckst da immer hin!
Frau: Ich? Ich gucke dahin? Wie kommst du denn darauf?
Mann: Es sieht so aus!
Frau: Das kann gar nicht so aussehen, ich gucke nämlich vorbei! Ich gucke absichtlich vorbei! Und wenn du ein kleines bißchen mehr auf mich achten würdest, hättest du bemerken können, daß ich absichtlich vorbeigucke! Aber du interessierst dich ja überhaupt nicht für mich!
Mann: Ja, ja, ja, ja, ja.
Frau: Wir können doch einfach mal ganz woanders hingucken.
Mann: Woanders??? Wohin denn??
Frau: Zur Seite, oder nach hinten!
Mann: Nach hinten?? Ich soll nach hinten sehen?? Nur weil der Fernseher kaputt ist, soll ich nach hinten sehen? Ich laß mir doch von einem Fernsehgerät nicht vorschreiben, wo ich hinsehen soll!!!
[Kleine Pause.]
Frau: Was wäre denn heute für ein Programm gewesen?
Mann: Eine Unterhaltungssendung.
Frau: Ach.
Mann: Es ist schon eine Unverschämtheit, was einem so Abend für Abend im Fernsehen geboten wird. Ich weiß gar nicht, warum man sich das überhaupt noch ansieht. Lesen könnte man stattdessen, Karten spielen oder ins Kino gehen oder ins Theater. Stattdessen sitzt man da und glotzt auf dieses blöde Fernsehprogramm!
Frau: Heute ist der Apparat ja nun kaputt.
Mann: Gottseidank.
Frau: Ja.
Mann: Da kann man sich wenigstens mal unterhalten.
Frau: Oder früh ins Bett gehen.
Mann: Ich gehe nach den Spätnachrichten der Tagesschau ins Bett.
Frau: Aber der Fernseher ist doch kaputt!
Mann: ICH LASSE MIR VON EINEM KAPUTTEN FERNSEHER NICHT VORSCHREIBEN, WANN ICH INS BETT ZU GEHEN HABE!!!

Ja, so ist das. Wir lassen uns das nicht vorschreiben. Wir sitzen ganz freiwillig jeden Abend vor dem Fernseher.

In diesem Gespräch bei Loriot kommt natürlich das Schreiben als Alternative nicht vor, der Sketch ist ja eher für »Normalbürger« gedacht, die weder ihre Abende noch sonst eine Zeit mit Schreiben verbringen, außer es handelt sich um einen Einkaufszettel.

Für uns Schreibende aber sind die Zeitfresser wie Fernsehen, Internet, Klönen mit Verwandten, Freunden und Bekannten oft der Grund dafür, daß wir nicht zum Schreiben kommen.

Sicherlich, da muß auch noch das Unkraut im Garten gejätet werden, und die Kinder wollen vielleicht was zu essen. Wenn wir keine Kinder haben, dafür aber ein Auto, ist daran bestimmt auch immer etwas zu machen, das Haus oder die Wohnung muß geputzt werden . . . und so weiter und so fort.

Wenn man nicht schreiben will, findet man viele Ausreden, aber was ist, wenn man schreiben will, aber trotzdem keine Zeit dafür findet?

Zeit hat man nicht, man muß sie sich nehmen

 . . . ist ein in Managerseminaren immer gern wiederholter Spruch.

Das heißt, die Zeit, die man hat, also 24 Stunden am Tag (mehr wird es nicht, auch wenn wir noch so sehr an der Uhr zerren oder sie auf den Boden werfen), muß man einfach richtig einteilen.

Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf dem Sterbebett und überlegen sich, was Sie in Ihrem Leben so geleistet haben. Unter anderem wollten Sie immer einen Roman schreiben. Aber irgendwie, irgendwie war da immer etwas anderes, das Ihnen die Zeit gestohlen hat. Würden Sie dann damit zufrieden sein, daß Sie sagen können: »Aber immerhin war meine Wohnung immer sauber und ordentlich«? Ist es wirklich wichtiger, die Wohnung aufzuräumen als ein Buch zu schreiben?

Und würden Sie dann nicht, kurz vor ihrem endgültigen Verlassen der Erde, seufzen: »Ach, hätte ich doch lieber einen Roman geschrieben als die Wohnung aufzuräumen«?

Deshalb kein „hätte“ und kein „könnte“ mehr, sondern nur noch ein „Ich tue es! – Ich nehme mir einfach die Zeit!“

Interessanterweise gelingt es dann am besten, sich Zeit zum Schreiben abzuknapsen, wenn man am wenigsten davon hat. Ich kann immer dann am besten schreiben, wenn ich in zehn Minuten einen Termin habe und eigentlich weg muß. Wenn ich hingegen Stunden vor mir habe, die ich zu Hause verbringen kann, mache ich mir erst einmal einen Kaffee, schaue noch die eine oder andere Mail an oder blättere in einem Buch, das nichts mit dem Thema, über das ich schreiben möchte, zu tun hat, und das auch noch bis morgen oder übermorgen Zeit hätte.

Somit ist es vielleicht ganz günstig, sich sehr viel vorzunehmen, sehr viele Termine zu haben, sich um alles mögliche zu kümmern und dann auch noch eine Stunde am Tag fürs Schreiben einzuplanen. Dadurch erhält das Schreiben keinen so hohen Stellenwert, ich muß nichts Grandioses schaffen in dieser Zeit, es ist eben nur eine Stunde, und in der muß ich möglichst viel schaffen – Qualität ist erst einmal irrlevant.

So schreibt sich Ihr Roman ganz von selbst. Na ja, nicht ganz. Patricia Highsmith berichtete einmal, daß sie, als sie noch jung und noch keine berühmte Schriftstellerin war, morgens in aller Herrgottsfrühe aufgestanden ist, um vier oder fünf Uhr, um noch zwei Stunden schreiben zu können, bevor sie zur Arbeit gehen mußte (sie arbeitete damals als Verkäuferin in einem Kaufhaus).

Das war aber nicht alles. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, duschte sie, zog sich bequeme Kleidung an und setzte sich dann sofort an den Schreibtisch (oder damals eher an ihren Küchentisch, denn sie hatte gar keinen Schreibtisch), um bis tief in die Nacht zu schreiben. Sie sagte, daß es für sie sehr wichtig war, sich umzuziehen, sich nicht direkt in der Kleidung an den Tisch zu setzen, in der sie tagsüber arbeitete. Sie zog quasi einen richtigen Strich unter ihren Arbeitstag, für den sie bezahlt wurde, um dann mit dem Arbeitstag zu beginnen, für den sie damals noch nicht bezahlt wurde.

Ich denke, auch solche Rituale sind äußerst wichtig. Wenn ich meine „Schreibhose“ oder mein „Schreib-T-Shirt“ anhabe, weiß ich, was jetzt meine Aufgabe ist. Ich kann nicht einfach aufspringen und etwas anderes tun.

Es ist wichtig, daß man sich dessen bewußt ist, daß die Zeit, die man sich zum Schreiben nehmen kann, sehr kostbar weil rar ist, und daß man diese Zeit so gut wie möglich nutzen muß.

Genauso fühle ich mich, wenn ich weiß, daß ich bald das Haus verlassen muß. Dann schießen die Ideen nur so in meinen Kopf, ich kann gar nicht mehr aufhören zu schreiben. Es ist der Druck, daß die Zeit, die man zum Schreiben hat, begrenzt ist, die einen so antreibt. In solchen Zeitabschnitten schreibt man mehr als in Stunden gemütlich vor der Kaffeetasse, in denen man ohne Zeitdruck schreiben könnte.

Manche Leute brauchen Rituale, bevor sie anfangen zu schreiben, auch das ist wichtig. Man setzt sich nicht einfach an den Schreibtisch und schreibt. Bei mir ist es der Cappuccino, ohne den gar nichts geht. Wenn ich schreibe, brauche ich Cappuccino wie die Luft zum Atmen, mehrere große Tassen am Tag. Meine Cappuccino-Maschine wird gar nicht mehr ausgeschaltet an solchen Tagen. Habe ich keinen Cappuccino, kann ich auch nicht schreiben. Jeder Mensch hat so seine eigenen Rituale, Bedürfnisse und Gewohnheiten.

Früher dachte ich, so etwas braucht man nicht. Die Inspiration zum Schreiben fällt mich an wie ein Blitz, und dann mache ich es eben. Ich hätte nie gedacht, daß man sich Schreiben „angewöhnen“ kann wie Zähneputzen. Auch zum Zähneputzen hat man manchmal keine Lust, aber man tut es trotzdem.

Auf die Inspiration zu warten, auf die Lust zum Schreiben, wäre jedoch Zeitverschwendung. Wenn man wenig Zeit hat, muß man jede Minute, jede Sekunde nutzen, man kann sich nicht auf seine „Muse“ verlassen. Da ist es eher nützlich, sich eine Routine zuzulegen wie vor dem Beginn des Arbeitstages jeden Tag ein, zwei Stunden zu schreiben oder nach Feierabend.

Andere Leute gehen morgens oder abends joggen, wir schreiben. 

Also: Finden Sie Ihr Ritual und ziehen Sie es durch. Machen Sie Termine, jeden Tag, wenn Sie das brauchen, damit Sie wissen, daß Sie in einer Stunde das Haus verlassen müssen und nur diese eine Stunde haben, um zu schreiben.

Oder lassen Sie Ihre Kaffeemaschine einen Cappuccino nach dem anderen zubereiten, wenn das Ihr Ritual ist. Für mich ist diese eine Bewegung, auf den Knopf Automatic Cappuccino zu drücken, schon selbst richtig zum Ritual geworden. Dann höre ich zu, wie die Maschine die Milch schäumt, während ich meinen PC einschalte. Danach mahlt die Maschine den Espresso und füllt ihn in die Tasse mit der aufgeschäumten Milch. Zu diesem Zeitpunkt bin ich von meinem Arbeitszimmer in der Küche zurück und kann den Cappuccino mitnehmen, um ihn dann neben meinen Bildschirm zu stellen und mit dem Schreiben zu beginnen.

Letztens war meine Cappuccino-Maschine kaputt, und es hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Es ist peinlich, aber man wird richtig abhängig von solchen Ritualen. Deshalb sind sie so hilfreich. Es ist quasi wie Hypnose. Man richtet sich nur und ausschließlich auf eine Sache aus und auf die konzentriert man sich.

Das Schreiben. Nichts anderes. Für eine Stunde oder zwei. Jeden Tag.


Na, wie viele Verabredungen haben Sie ausgeschlagen und wie viele Abende haben Sie den Fernseher nicht angemacht seit letzter Woche? Weil Sie lieber schreiben wollten. 

Die beste Antwort wäre natürlich, Sie haben keine einzige Einladung angenommen und den Fernseher nicht ein einziges Mal eingeschaltet.

Nein, das erwartet niemand von Ihnen. Das wäre unrealistisch. Man braucht einfach den Kontakt zu Freunden oder die Entspannung vor dem Bildschirm bei einer eventuell nicht allzu anspruchsvollen Serie. Ich habe beispielsweise die »Desperate Housewives« geguckt. 

Die verzweifelten Hausfrauen sind auch ganz interessant als Vorlage. Weil es dort eben hauptsächlich um Frauen geht, wenn auch meistens um Heterofrauen. Bis auf die lesbische Stripperin. Eine witzige Idee der Drehbuchautoren.

Konnten Sie die Aufgabe der letzten Woche bewältigen? Die Verlorenheit in einer Liebesbeziehung? Wie verloren haben Sie sich beim Schreiben gefühlt?

Als ich »Desperate Housewives« sah, kam es mir auch so vor, daß dort Verlorenheit in Liebesbeziehungen, Enttäuschungen, nicht erfüllte Erwartungen, hohe Ansprüche und der tiefe Fall in die Realität immer wieder Thema sind. Fast ausschließlich.

Deshalb ist es wohl auch ein Thema, über das jeder schreiben kann. Wir haben das alle schon einmal erlebt. Viele haben sich wahrscheinlich nicht getraut, ihre Verlorenheit in einem Text hier darzustellen, aber empfunden hat das wohl schon jede von uns einmal.

Wann fand die Enttäuschung statt? Erst nach einer Weile, nach Wochen, Monaten, Jahren, oder schon gleich zu Anfang, wie hier:

„Du gehst schon?“ fragte Nora, immer noch nackt und benommen von dem, was die andere eben in ihr ausgelöst hatte: War das überhaupt noch ein Orgasmus gewesen oder mehrere – oder ganz etwas anderes?
„Das Schöne an One-night-stands ist, daß man sich zu nichts verpflichtet fühlen muß.“ Sam lächelte freundlich – nicht verliebt, nicht mit besonders viel Sympathie, sondern einfach nur freundlich, wie zu einem Kind, zu dem man nett ist, oder einem Hund, dem man den Kopf tätschelt – drehte sich um und ging.

Ja, so kann''s gehen. Und nach einer längeren Zeit sieht es dann vielleicht so aus:

„Bitte ruf mich nicht an und schick mir keine Blumen“, sagte sie. Sie legte das Geld für ihren Kaffee auf den Tisch, erhob sich und verließ das Straßencafé, wo eben noch die Sonne geschienen hatte und nun eine dunkle Wolke sich vor die hellen Strahlen schob.
Oder kam mir das nur so vor? War die Sonne immer noch genauso warm, und ich spürte sie nur nicht mehr?
Wie in Trance sammelte ich ein paar Münzen aus meiner Tasche zusammen und legte sie neben die von ihr auf den Tisch. Nicht einmal den Kaffee hatte sie mich für sie bezahlen lassen.
Ich stand auf, sah noch einmal auf die einsamen Münzen hinunter, die sich aber sicherlich immer noch nicht so einsam fühlten wie ich, drehte mich um und ging in die andere Richtung davon.

Am schwierigsten ist es wohl immer, wenn man erfährt, daß man betrogen wird oder wegen einer anderen Frau verlassen werden soll. Das war das, was Hanna Berghoff in ihrem Beitrag so eindrucksvoll beschrieben hat. Wenn die Liebe vorbei ist, man es aber einfach nicht gemerkt hat. Weil die eigene Liebe noch besteht. Nur bei der geliebten Frau hat sie sich verflüchtigt.

Es gibt aber auch andere Arten von Verlorenheit, die nicht unbedingt etwas mit einer Liebesbeziehung zu tun haben. Es gibt beispielsweise auch die Verlorenheit, mit seinem Leben nicht so recht etwas anfangen zu können, nicht zu wissen, was man tun soll, keine richtige Vorstellung, Richtung oder Perspektive zu haben. Meistens eher bei jungen Leuten, die ihren Weg noch nicht gefunden haben, aber auch ältere können durchaus davon befallen werden. Wenn man merkt, daß man sich seit Jahren weder beruflich noch privat verändert hat beispielsweise. Dann stellt man sich plötzlich die Frage: Soll das alles gewesen sein?

Auch das könnte ein Anfang für einen Roman sein. Die Suche nach einem neuen Sinn im Leben.
Für mich ist der Sinn immer die Liebe, aber das ist nicht für jeden Menschen so, ich weiß.

Verlorenheit ist jedoch ein wunderbarer Ausgangspunkt für eine Geschichte, einen Roman, weil sie allgemeinmenschlich ist. Und viele Möglichkeiten für Entwicklung zuläßt. Denn selbstverständlich soll die Figur, die am Anfang verloren ist, es am Ende nicht mehr sein. Sie soll gefunden werden oder finden, je nachdem, auf jeden Fall soll sie glücklich sein.

Was geschieht beispielsweise mit der Frau, Nora, die ich oben in meinem ersten Auszug beschrieben habe? Was tut sie als nächstes, nachdem ihre Bekanntschaft für eine Nacht oder für ein paar Stunden sie verlassen hat? Sie kann nicht nur dasitzen und weinen. Sie muß etwas tun.

Wie hat es sich angefühlt, als Sie einmal in einer ähnlichen Situation waren? Oder wenn Sie noch nie in dieser Situation waren, wie könnte es sich anfühlen? Beschreiben Sie die Gefühle, die Verlorenheit, das Gefangensein im Unglück einer so schweren Enttäuschung.

Und was geschieht als nächstes? Was wird Nora tun? Wo befindet sie sich? Bei sich zu Hause? In einem Hotelzimmer? Sicherlich nicht bei ihrer Sexpartnerin zu Hause, denn die geht ja.

Das wäre also die Aufgabe für nächste Woche (außer an Ihrem Roman zu schreiben): Versuchen Sie so tief wie möglich in Noras Gefühle einzudringen. Erinnern Sie sich an eigene Erlebnisse, aber benutzen Sie auch Ihre Phantasie. Schmücken Sie die Geschichte, die hier nur angedeutet wird, aus. Oder erfinden Sie eine völlig neue Geschichte, das ist ganz egal.

Wichtig ist, daß Sie ganz tief in die Gefühle der Figur eintauchen, daß Ihnen heiß und kalt wird beim Schreiben, weil sie genau das empfinden, was Ihre Figur empfindet. Egal, ob es gute oder schlimme Gefühle sind.

Gefühle, oftmals aus eigenen Erinnerungen und Erfahrungen gespeist, sind die wichtigste Grundlage dafür, eine Geschichte schreiben zu können. Eine unabdingbare Grundlage. Ein Roman ohne Gefühle ist nicht lesbar. Oder zumindest macht es kein großes Vergnügen, ihn zu lesen.

Es geht in jedem guten Roman weniger um das, was äußerlich passiert, Action, Abenteuer, aufregende Ereignisse, sondern es geht in erster Linie darum, was innerlich passiert.

Ihre Figuren können still dasitzen und trotzdem kann sehr viel geschehen. Sie können sich Gedanken über alles mögliche machen, sich verschiedene Möglichkeiten ausmalen, sich Vorwürfe machen oder der anderen die Schuld zuschieben.

Lassen Sie Nora (oder Ihre eigene Romanfigur) in der nächsten Woche durch die Hölle gehen.

Die Sehnsüchte Ihrer Figuren sind der Stoff, aus dem gute Romane sind. Das, was sie sich wünschen, aber nicht bekommen können. Oder erst nach großen Umwegen und Problemen erreichen.

Und dann muß ein Licht am Ende des Tunnels auftauchen, die Hoffnung muß eine Chance bekommen, die Gefühle müssen sich ändern. Nichts darf über längere Zeit gleich sein, dann wäre der Roman zu statisch. Er muß dynamisch sein, die Figur muß sich entwickeln, damit am Ende eine glückliche Zukunft locken kann.

Aber nicht zu schnell. Zuerst einmal müssen die Tiefen erforscht werden. 


Schon wieder eine Woche rum, und es geht weiter mit dem Versuch, einen Roman in einem Jahr zu schreiben.

Zehn Wochen bereits, das sind zehnmal 1500 Wörter, das heißt, Ihr Computer muß bereits mit 15.000 Wörtern (in Worten: fünfzehntausend) heißgelaufen sein. 

Oder haben Sie zwar daran gedacht, einen Roman schreiben zu wollen, es aber nicht getan?

Fahren Sie manchmal mit dem Zug, und ohne daß Sie es wollen, können Sie es gar nicht verhindern, Ihre Mitfahrer zu belauschen?

Passiert mir immer wieder, und es ist ein Hort an Ideen, der sich da auftut. Ich habe mir früher schon einmal überlegt, mir nur allein deshalb eine Monatskarte zu kaufen, und einfach stundenlang mit dem Zug auf einer Strecke hin- und herzufahren, eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Den ganzen Tag.

Ich habe es dann doch nicht getan, aber eine Weile bin ich mit dem Zug zur Arbeit gefahren, und das hat auch schon gereicht.

Eines Abends fuhr ich von der Arbeit nach Hause, und weil es schon recht spät war und ich noch nichts gegessen hatte, setzte ich mich in den Speisewagen.

Drei Leute kamen aus dem hinteren Teil des Zuges hinzu, sie waren offensichtlich schon eine Strecke gefahren, sie sahen nicht wie die Kurzstreckenberufspendler aus, wie ich einer war, mit Aktentasche und Geschäftsanzug. Sie sahen eher aus wie Leute, die sich im Zugabteil kennengelernt hatten und sich genug mochten, um gemeinsam im Speisewagen essen zu gehen.

Ich saß, da ich allein war, an einem kleinen Tisch, und auf der anderen Seite des Ganges war ein größerer, ausreichend für vier Leute. Dorthin setzten sich die drei Fahrgäste, zwei Männer und eine Frau.

„Das ist ja interessant“, sagte der eine Mann zum anderen. „Sie schreiben einen Roman?“
„Ja“, erwiderte der andere. „Im Moment läuft es ganz gut.“
„Und wie lange schreiben Sie schon daran?“ fragte der andere.
„Seit fünf Jahren.“
„Ist das nicht sehr lange?“
„Ja, na ja ... Es läuft nicht immer so gut. Aber in letzter Zeit ging es wirklich gut voran“, fügte er zuversichtlich hinzu.

Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich wirklich, was der Schreiber fünf Jahre lang mit dem Roman gemacht hatte. Ein einziger Roman, wohlgemerkt, nicht mehrere. Fünf Jahre für einen einzelnen Roman, der noch nicht einmal fertig war.

Es gibt Geschichten, die schreiben sich leichter, und andere sind etwas sperrig. Ich habe auch Romane, die einfach nicht weitergehen wollen und die dann liegenbleiben. Aber dann schreibe ich eben etwas anderes, eine neue Geschichte, einen neuen Roman. Ich bastele nicht fünf Jahre an einem einzigen Roman herum und schreibe sonst gar nichts.

„Wissen Sie denn, wann Sie mit dem Roman fertig sein werden?“ fragte die junge Frau, die bei den beiden am Tisch saß.
Der Schreiber des Romans schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht so genau sagen, aber ich bin zufrieden, daß es im Moment so gut läuft. Ich schreibe ziemlich viel jeden Tag.“
„Aber wenn Sie schon so lange an dem Roman schreiben und auch so viel jeden Tag, dann müßte er ja schon tausend Seiten lang sein“, lachte die junge Frau.
„Ja. Ja, lang ist er schon“, gab der Mann zu.
„Und was fehlt noch?“ fragte die junge Frau.
Der Mann, der sich seit fünf Jahren mit dem Roman quälte, verzog schief das Gesicht. „Mir fällt einfach kein Plot ein“, sagte er.

Das heißt, dieser Mann schrieb seit fünf Jahren an einem Roman, der praktisch keine Handlung hatte, keine Geschichte. Er schrieb und schrieb, aber es war alles Unsinn, was er schrieb, nur sinnloses Geschreibsel, das nie zu etwas führen würde, denn er wußte eigentlich nicht, was er schreiben wollte.

Gerade vor einiger Zeit haben wir so einen Roman von einer jungen Frau zugeschickt bekommen. 250.000 Wörter. Können Sie sich das vorstellen? Zweihundertfünfzigtausend.

Meistens ist es schon ein schlechtes Zeichen, wenn ein Manuskript so lang ist. Allerdings nicht immer. Manche Autorinnen können tatsächlich 250.000 Wörter mit Inhalt füllen.

Diese junge Frau konnte es allerdings nicht. Es waren 250.000 Wörter sinnloses Geplapper. Sie hatte keinen Plot, keine Handlung, keine Dramaturgie, gar nichts. Offenbar hatte sie einfach so vor sich hingeschrieben, was ihr gerade einfiel.
Es gab nicht eine, sondern x verschiedene Geschichten. Jede Figur, die auftauchte, wurde erst einmal intensiv dargestellt. Zwar gab es eine sogenannte Hauptfigur – wie so oft vermutlich ein Alter Ego der Autorin selbst –, aber die stand nicht wirklich im Mittelpunkt.

Beispiel: Die Hauptfigur, nennen wir sie einmal Sam, arbeitet in einem Café. Dann kommt die Chefin des Cafés und sagt etwas zu ihr. Also wird erst einmal über die Chefin räsoniert, ihre Geschichte gleich auch noch erzählt. Dann kommt eine Freundin von Sam herein, und schon wird ihre Geschichte erzählt, in allen Einzelheiten.

Und so ging es dann die ganze Zeit weiter. Jede Figur, die auftauchte, bekam ein eigenes Kapitel, auch wenn die Figuren weder eine Bedeutung für die Geschichte hatten noch irgendwie interessant waren. Es gab keinen roten Faden und keine fortlaufende Geschichte, keinen Plot.

Ich dachte beim Lesen: »Irgendwann muß die Geschichte doch anfangen.« Aber das war ein Irrtum. Die Autorin hatte 250.000 Wörter geschrieben, ohne auch nur den Schimmer einer Geschichte oder eines Plots aufleuchten zu lassen.

Der junge Mann, der damals im Zug über seinen Roman sprach, hatte garantiert dasselbe Problem. Statt sich auf eine Geschichte zu konzentrieren, die er erzählen wollte, schrieb er einfach hin, was ihm so einfiel. Ohne Ziel und Überblick.

Was war nun der Fehler, den diese beiden gemacht hatten, sowohl der Mann im Zug als auch die junge Frau mit den 250.000 Wörtern?

Ich würde einmal vermuten, beide hatten wenig Lebenserfahrung. Sie waren entweder noch zu jung oder sie hatten es einfach versäumt, der Hauptaufgabe eines Autors und einer Autorin nachzugehen: zu beobachten und Material für Geschichten zu sammeln.

Wenn man noch nichts erlebt hat, wie soll man dann einen Roman schreiben? Und wenn man zwar viel erlebt hat, aber nicht aufgepaßt hat, nicht beobachtet hat? Dann geht es auch nicht. Aber das entscheidende ist und bleibt immer die Beobachtungsgabe.

Es gibt 15jährige, die aufgrund ihres jugendlichen Alters noch nicht allzuviel erlebt haben, aber so gute Beobachter sind, daß sie gute Geschichten schreiben können.

Und es gibt 50jährige, die ein durchaus interessantes Leben hinter sich haben, mit vielen Geschichten, die aber so schlechte Beobachter sind, daß es trotz des guten Materials nie einen guten Roman geben wird.

Wenn Sie in einem Café sitzen oder im Zug, im Bus, an der Bushaltestelle stehen, durch die Einkaufsstraßen laufen – beobachten Sie dann? Oder blenden Sie einfach alles aus?

Wie Sie sich denken können, ist letzteres keine gute Voraussetzung dafür, einen Roman zu schreiben.

Es mag sein, daß man sich neugierig vorkommt oder den Eindruck hat, andere Leute schauen einen merkwürdig an, aber das darf einen nicht stören, wenn man schreiben will. Denn ohne Material keine Geschichte.

Sie haben schon eine Idee für einen Roman? Sie haben sogar schon angefangen, weil Sie ja so große Lust hatten zu schreiben? Sie haben schon Dutzende von Seiten geschrieben und sind ganz stolz auf sich?

Gut. Aber haben Sie auch einen Plot? Ein Plot ist ein durchgängiger roter Faden, an dem sich alles ausrichtet. Normalerweise ist der Plot eng an die Hauptfigur geknüpft, das heißt, die Hauptfigur beginnt an einem Punkt, erlebt dann vieles, und am Ende des Romans hat sie sich verändert, hat etwas gelernt oder eine entscheidende Wende in ihrem Leben eingeleitet oder vollzogen.

Und etwas ganz Entscheidendes, was viele Leute vergessen: In einem Roman muß etwas passieren. Und was passiert, muß Folgen haben.

Stellen Sie sich vor, Sie lesen einen Roman oder sehen einen Film, und eine Figur sagt zur anderen: »Ich habe gerade einen Menschen umgebracht.« Daraufhin reagiert die andere Figur nicht oder sagt nur »Hmhm« und trinkt weiter ihr Bier.

Was bedeutet das? Ist das richtig so?

Es könnte natürlich ein dramaturgischer Trick des Autors sein, um zu zeigen, wie gefühllos die Welt ist oder so etwas in der Art, aber gehen wir einmal davon aus, das ist es nicht. Was ist es dann?

Einfach gar nichts. Unfähigkeit. Kein Ereignis, keine Reaktion.

Jedes Ereignis hat Folgen. Im täglichen Leben wie im Roman. Aber im Roman ist es ein absolutes Muß, diese Folgen auch darzustellen und in einen Plot zu packen.

Eine Geschichte von 250.000 Wörtern, in der der Romanfigur nie etwas wirklich Interessantes passiert, ist keine Geschichte. Nicht die Menge macht es, sondern der Inhalt.

»Aber ich habe doch gar nicht so viel erlebt«, könnten Sie jetzt einwenden. »Ich sitze nur hier und schreibe.«

Das ist in der Tat ein Problem. Ich sitze auch nur hier und schreibe. Während dieser Zeit erlebe ich eigentlich nichts. Nichts außer dem, was auf dem Papier stattfindet.

Deshalb eben ist es so wichtig zu beobachten, wenn man gerade nicht schreibt. Ich kann nicht aus dem Leeren schöpfen, ich muß etwas haben, was interessant oder aufregend genug ist, um die Leserinnen für mehrere Stunden beim Lesen zu fesseln.

Mein eigenes Leben, das kann ich Ihnen versichern, ist das nicht. Heute zumindest ist mein Leben lange nicht mehr so aufregend wie es vor zwanzig oder dreißig Jahren war. In jüngeren Jahren erlebt man meist mehr, und davon kann man dann, wenn man älter ist, zehren. Auch als Autorin.

Und trotzdem beobachte ich auch heute noch jeden Tag, soviel ich kann. Wenn ich über die Straße gehe, wenn ich Auto fahre, wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe. Es gibt immer etwas zu sehen und zu erfahren.

Aus jedem Menschen in der Schlange an der Kasse eines Supermarkts kann man eine Geschichte machen.

Man muß eben nur gut beobachten.


Ab jetzt geht es ans Eingemachte:

Wie löse ich mich von meiner eigenen Erfahrung und erweitere meine Vorstellungskraft?

Wie ich schon des öfteren hier im Blog bemängelt habe, erhalten wir oft Geschichten, angebliche »Romane«, die aber gar keine Romane sind, sondern lediglich eine Art Tagebuch, eine Geschichte, die die Autorin selbst erlebt hat, nicht erfunden.

Diese Art Geschichten lösen immer ein unbehagliches Gefühl in mir aus, denn erstens ist es oft schwierig, daran etwas zu ändern, weil die Autorin protestiert: »So ist es doch gar nicht passiert!«, und selbst wenn man etwas daran ändern darf, geben die Geschichten oft nicht viel her. Das tägliche Leben ist meistens einfach nicht interessant genug, um daraus einen Roman zu machen.

Viele solcher »Autorinnen« sind oft dann auch gar nicht in der Lage, einen zweiten oder dritten Roman zu schreiben, weil ihnen eben die Phantasie fehlt, sich etwas auszudenken. Sie müssen alles erlebt haben, was sie niederschreiben. Das hat natürlich nichts mit Schriftstellerei oder Literatur zu tun, das ist einfach nur Tagebuch, wie gesagt, keine Kunst.

Wenn Sie so etwas schreiben wollen, wenn Sie meinen, daß sich Ihr eigenes Leben in dem, was Sie schreiben, widerspiegeln sollte, ja sogar ein Roman ein genaues Abbild Ihres Lebens sein sollte, dann ist dieser Kurs und diese Seite nichts für Sie. Hier wende ich mich an Autorinnen, die wirklich Autorinnen sein wollen, ohne ihr eigenes Leben als Grundlage zu nehmen.

Bis auf gewisse Details selbstverständlich. Die Grundlage all meiner Romane ist, daß ich lesbisch bin. Ich schreibe nicht über Heteroliebesbeziehungen, sondern über lesbische Liebesbeziehungen, weil das in der Tat mein Alltag ist. Ich liebe meine Frau. 

Und meine Vorstellungen davon, wie man im täglichen Leben miteinander umgehen sollte, gehen ebenfalls in meine Werke ein. Ich halte sehr viel von Höflichkeit und Respekt, und ich denke, daß Liebe nicht daraus besteht, sich gegenseitig anzuschreien oder zu beleidigen. Andere Details, wie daß ich Nichtraucherin bin und deshalb eigentlich alle meine Figuren nicht rauchen, sind nicht so wichtig, aber auch meinem eigenen Leben geschuldet.

Auch Alkohol gehört nicht zu meinem täglichen Leben – obwohl ich durchaus nichts gegen ein Glas Bier oder ein Gläschen Wein habe, und nach einem schweren Essen trinke ich auch einmal einen Schnaps – und ebensowenig Drogen. Somit wird wohl kaum je eine meiner Hauptfiguren eine starke Raucherin oder Trinkerin sein, von Drogenabhängigkeit ganz zu schweigen. Wenn, wie beispielsweise bei »Simone«, ist es höchstens der Ausgangspunkt für einen Entzug und ein Grund für die Darstellung der Probleme, die Alkohol- und Tablettenmißbrauch mit sich bringt.

Somit ist also nichts gegen das Einfließenlassen eigener Erfahrungen und Werte zu sagen, sofern sie nicht nur und ausschließlich die eigene Erfahrung widerspiegeln und beschreiben. Wir alle können uns nicht völlig von unserem Hintergrund lösen. Wenn wir aus einem Arbeiterhaushalt stammen, werden wir nie nachvollziehen können, wie es gewesen wäre, in einem Akademikerhaushalt aufzuwachsen, und umgekehrt. Und hier greift ganz klar »Schuster, bleib bei deinem Leisten« oder auch »Beschreibe das, was du kennst«. Es ist sehr viel einfacher, auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen als immer alles erfinden zu müssen.

Wenn man jedoch ein Fundament von Werten und Erfahrungen hat, muß man darauf ein Haus bauen. Das Fundament allein reicht nicht, darin kann niemand leben.

Deshalb kommt jetzt einmal eine Übung, mit der man darauf aufbauen kann, was man kennt, aber trotzdem seine Phantasie bemühen muß, um aus dem Fundament ein Haus, das heißt einen Roman zu machen.

Haben Sie schon einmal überlegt, in einem Land zu leben, von dem Sie eigentlich nichts wissen? In dem Sie noch nie waren? Ein fremdes, exotisches Land, dessen Gebräuche Sie nicht kennen und in dem Sie Schwierigkeiten hätten sich zurechtzufinden?

Ist es nicht ähnlich, einen Roman zu schreiben? 

Und um das fremde Land des Romanschreibens zu erobern, muß man vielleicht einmal überlegen, wie man ein reales Land »erobern«, sich zu eigen machen würde.

Hier ist die Übung: Suchen Sie sich ein Land aus, über das Sie praktisch nichts wissen. Schlagen Sie einen Atlas auf und tippen Sie einfach irgendwo hin.

Und dann schreiben Sie so, als ob Sie dort geboren wären.

Mal angenommen, das Land ist irgendwo in Afrika, dann könnten Sie so beginnen:

Mein Name ist Ndela, und ich sitze hier an der Ecke der Hauptstraße und bettele. Ich bin erst 15 Jahre alt, aber ich sehe aus wie 50. Als ich geboren wurde, war mein Schicksal besiegelt. Meine Eltern hatten beide AIDS und starben kurz nacheinander, als ich erst zwei Jahre alt war. Eine Großmutter nahm mich auf, aber auch sie starb, denn sie war schon sehr alt. So gelangte ich mit 5 Jahren in die Hauptstadt, wo ich seitdem versuche zu überleben.

Und nun: Schreiben Sie weiter. Versuchen Sie, sich das Leben dieses jungen Mädchens vorzustellen. Was könnte ihr passieren? Womit hat sie zu kämpfen? Welchen Gefahren ist sie jeden Tag ausgesetzt? Und wie überwindet sie sie? Oder überwindet sie sie nicht? Wenn sie überleben will, muß sie das auf die eine oder andere Weise.

Ich bin überzeugt, niemand von uns weiß, was Überleben wirklich bedeutet in einem Land, in dem es keine Sozialversorgung gibt, kein Essen, kein Dach über dem Kopf, keine Anlaufstelle in Form von Ämtern und Behörden.

Erweitern Sie Ihre Vorstellungskraft. Überleben Sie in einem Land, in dem Sie ganz auf sich allein gestellt sind, ohne jegliche Unterstützung.

Ich würde mich wirklich freuen, wenn ein paar Geschichten dieser Art hier eingestellt würden.

Sind Sie in der Lage, das Überleben in einem fremden Land, das Sie überhaupt nicht kennen, zu beschreiben?

Wenn Sie das können, dann haben Sie den ersten Schritt zur Schriftstellerin gemacht.


Wie haben Sie die Aufgabe von letzter Woche gemeistert? Fiel es Ihnen schwer, sich eine Person auszudenken, die in einem Ihnen fremden Land lebt? Wie viele Stunden haben Sie an der Übung geschrieben? Sich so etwas Fremdes auszudenken, ist ganz schön arbeitsintensiv, nicht wahr?

Aber glauben Sie mir: Das Internet ist ein Segen, was das betrifft. Früher, als es noch kein Internet gab, mußte man viele, viele Bücher wälzen, seine Tage in dunklen Bibliotheken verbringen, um Informationen zu sammeln, selbst Reisen unternehmen, um fremde Länder kennenzulernen.

Und wenn man das nicht konnte, dann war man ziemlich aufgeschmissen. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum früher, als Reisen und Urlaub in fernen Ländern noch nicht selbstverständlich waren, Reisebiographien so boomten. Viele Leute zu Hause waren sehr erpicht darauf zu erfahren, was andere dort, wo sie selbst nicht hinkonnten, erlebt hatten.

Es war äußerst exotisch, sein eigenes Land, ja sogar seine eigene Heimatstadt zu verlassen. Als Goethe seine berühmte Reise nach Italien unternahm, war das ein großer Aufwand – zu Fuß! – und etwas sehr Besonderes. Heute fliegt man einfach mit dem Flugzeug nach Italien, nach Spanien, in die Türkei, nach Mallorca oder sogar in die Karibik. Alles kein Problem.

Manchmal denke ich, früher, als das alles noch nicht so selbstverständlich war, war es schöner. Was hat man davon, wenn man kaum mehr einen Unterschied merkt zwischen Deutschland und Mallorca?

Als Frédéric Chopin und George Sand auf Mallorca waren, im Winter 1838/1839, war das in keinem Fall etwas, das ihnen jeder nachmachen konnte. Keine Billigflieger brachten Massen von Billigurlaubern dorthin. Sie waren ganz allein dort, und es war recht beschwerlich, dort hinzukommen und auch, dort zu leben.

Damals war Mallorca noch wirklich schön, keine häßlichen Hotelburgen am Strand, keine abstoßend besoffenen Urlauber am Ballermann. Das muß wirklich herrlich gewesen sein. Heute kann man sich diese Schönheit kaum mehr vorstellen. Der Massentourismus hat jegliche Schönheit zerstört. Mallorca ist kein Ziel mehr für stilvollen, ruhigen Urlaub.

Selbstverständlich könnte man heute, um eine Geschichte zu recherchieren, dennoch nach Mallorca reisen. Es wäre billig und einfach dort hinzukommen. Und dann könnte man schauen, was die Urlauber so für Geschichten anbieten. Der Bierbauchprolet, der morgens immer sein Handtuch auf eine Liege am Pool legt, damit er später, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, einen reservierten Platz hat, könnte durchaus ein Aufhänger sein. Auch wenn er im ersten Moment uninteressant erscheint.

Uninteressante Figuren, die ein eher langweiliges und vorhersehbares Leben führen, sind überhaupt eine gute Ausgangsposition für alles mögliche. Denn ihnen können unvorhergesehene Dinge zustoßen, mit denen sie überfordert sind. Da sie selbst keine Phantasie haben, kann man sie mit Phantasie füllen wie einen leeren Eimer.

Das ist einer der Tricks, die Stephen King eigentlich regelmäßig anwendet: Seine Geschichten beginnen alle in einem sehr alltäglichen Ambiente. Eine durchschnittliche, kaum erwähnenswerte Familie mit Kindern, deren Tagesablauf so vorhersehbar ist wie das Ticken einer Uhr, von denen man niemals glaubt, daß es etwas Interessantes gibt, was man über sie berichten könnte.

Und dann wird so etwas daraus wie »Der Friedhof der Kuscheltiere«. Eine grausame Horrorgeschichte, die wohl kaum alltäglich zu nennen ist.

Wir wollen hier natürlich keine Horrorgeschichten schreiben, aber jede Geschichte kann zum Horror werden, wenn man nicht weiterkommt, wenn man hängt und hängt und sich jeden Tag vor den Computer setzt, in der Hoffnung, heute fällt mir etwas ein – aber mir fällt nichts ein.

In so einem Falle ist eine fremde Perspektive oft nützlich. Sie sind auf Mallorca und können trotzdem keine Geschichte schreiben? Dann wechseln Sie doch einmal die Perspektive und schreiben Sie die Geschichte aus der Sicht des oben erwähnten Bierbauchproleten. Können Sie sich vorstellen, wie er die Welt sieht?

Es ist schwierig, natürlich, aber Schreiben, insbesondere wenn man es richtig lernen will, ist eben nicht immer einfach – oft sogar eher eine Qual. Warum wir Schreibenden es trotzdem tun? Tja, manchmal weiß ich das wirklich nicht. 

Kreativität ist nicht nur angeboren, man kann sie auch fördern und verbessern. Durch Übungen wie diese, nämlich eine fremde Welt zu beschreiben, ein Land, in dem man noch nie war, oder eine Geschichte aus der Perspektive eines fremden Menschen, vor allem aus der Perspektive eines Menschen, mit dem man nichts gemeinsam hat – wie unser jetzt schon sprichwörtlicher Bierbauchprolet.

Schon allein die Welt aus der Sicht eines Mannes zu beschreiben, ist äußerst exotisch, wie ich finde. Denn Männer leben und denken nun einmal völlig anders als wir Frauen. Ganz zu schweigen von irgendwelchen körperlichen Gegebenheiten und Reaktionen.

Gerade wenn man sich festgefahren – oder in unserem Falle »festgeschrieben« – hat, kann es wie ein Befreiungsschlag sein, eine völlig andere Hauptfigur zu wählen, eine völlig fremde Perspektive. Dann muß man bei jedem Wort neu überlegen, was die Figur tun oder denken könnte.

Wie schon gesagt ist es Sinn dieser Übungen, sich von der eigenen Erfahrung zu befreien, einen anderen Blick auf die Welt zu gewinnen und sich einen fiktiven Erfahrungshorizont zu erschaffen. So daß die Dinge, die wir dann beschreiben, so exotisch sie auch klingen mögen, wiederum so klingen, als hätten wir sie selbst erlebt.

Ich bekomme das oft zu hören, diese Frage, ob ich all das, was ich beschreibe, selbst erlebt habe. Und die Antwort ist: Nein, habe ich nicht. Was für ein Leben sollte ich geführt haben, um das alles selbst erlebt haben zu können? Dafür bin ich definitiv zu jung. 

Aber im Kopf habe ich es natürlich erlebt. Alles, was ich aufschreibe, wird zu einer Erfahrung, einer Erinnerung, einem Teil meines Lebens. Manchmal kann man kaum mehr unterscheiden, was man selbst erlebt hat oder was man nur für einen Roman erfunden hat. Das ist die beste Garantie dafür, daß die Geschichte den Leserinnen dann auch echt und authentisch erscheint.


Mit dieser 12. Woche und diesem 12. Kapitel stelle ich den Schreibkurs hier auf der Webseite nun ein. Da praktisch keine Texte eingestellt werden, ruft der Kurs wohl im allgemeinen nicht viel Interesse hervor, und so werde ich ihn ab jetzt ausschließlich im Schreibforum weiterführen.