Wie haben Sie die Aufgabe von letzter Woche gemeistert? Fiel es Ihnen schwer, sich eine Person auszudenken, die in einem Ihnen fremden Land lebt? Wie viele Stunden haben Sie an der Übung geschrieben? Sich so etwas Fremdes auszudenken, ist ganz schön arbeitsintensiv, nicht wahr?

Aber glauben Sie mir: Das Internet ist ein Segen, was das betrifft. Früher, als es noch kein Internet gab, mußte man viele, viele Bücher wälzen, seine Tage in dunklen Bibliotheken verbringen, um Informationen zu sammeln, selbst Reisen unternehmen, um fremde Länder kennenzulernen.

Und wenn man das nicht konnte, dann war man ziemlich aufgeschmissen. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum früher, als Reisen und Urlaub in fernen Ländern noch nicht selbstverständlich waren, Reisebiographien so boomten. Viele Leute zu Hause waren sehr erpicht darauf zu erfahren, was andere dort, wo sie selbst nicht hinkonnten, erlebt hatten.

Es war äußerst exotisch, sein eigenes Land, ja sogar seine eigene Heimatstadt zu verlassen. Als Goethe seine berühmte Reise nach Italien unternahm, war das ein großer Aufwand – zu Fuß! – und etwas sehr Besonderes. Heute fliegt man einfach mit dem Flugzeug nach Italien, nach Spanien, in die Türkei, nach Mallorca oder sogar in die Karibik. Alles kein Problem.

Manchmal denke ich, früher, als das alles noch nicht so selbstverständlich war, war es schöner. Was hat man davon, wenn man kaum mehr einen Unterschied merkt zwischen Deutschland und Mallorca?

Als Frédéric Chopin und George Sand auf Mallorca waren, im Winter 1838/1839, war das in keinem Fall etwas, das ihnen jeder nachmachen konnte. Keine Billigflieger brachten Massen von Billigurlaubern dorthin. Sie waren ganz allein dort, und es war recht beschwerlich, dort hinzukommen und auch, dort zu leben.

Damals war Mallorca noch wirklich schön, keine häßlichen Hotelburgen am Strand, keine abstoßend besoffenen Urlauber am Ballermann. Das muß wirklich herrlich gewesen sein. Heute kann man sich diese Schönheit kaum mehr vorstellen. Der Massentourismus hat jegliche Schönheit zerstört. Mallorca ist kein Ziel mehr für stilvollen, ruhigen Urlaub.

Selbstverständlich könnte man heute, um eine Geschichte zu recherchieren, dennoch nach Mallorca reisen. Es wäre billig und einfach dort hinzukommen. Und dann könnte man schauen, was die Urlauber so für Geschichten anbieten. Der Bierbauchprolet, der morgens immer sein Handtuch auf eine Liege am Pool legt, damit er später, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, einen reservierten Platz hat, könnte durchaus ein Aufhänger sein. Auch wenn er im ersten Moment uninteressant erscheint.

Uninteressante Figuren, die ein eher langweiliges und vorhersehbares Leben führen, sind überhaupt eine gute Ausgangsposition für alles mögliche. Denn ihnen können unvorhergesehene Dinge zustoßen, mit denen sie überfordert sind. Da sie selbst keine Phantasie haben, kann man sie mit Phantasie füllen wie einen leeren Eimer.

Das ist einer der Tricks, die Stephen King eigentlich regelmäßig anwendet: Seine Geschichten beginnen alle in einem sehr alltäglichen Ambiente. Eine durchschnittliche, kaum erwähnenswerte Familie mit Kindern, deren Tagesablauf so vorhersehbar ist wie das Ticken einer Uhr, von denen man niemals glaubt, daß es etwas Interessantes gibt, was man über sie berichten könnte.

Und dann wird so etwas daraus wie »Der Friedhof der Kuscheltiere«. Eine grausame Horrorgeschichte, die wohl kaum alltäglich zu nennen ist.

Wir wollen hier natürlich keine Horrorgeschichten schreiben, aber jede Geschichte kann zum Horror werden, wenn man nicht weiterkommt, wenn man hängt und hängt und sich jeden Tag vor den Computer setzt, in der Hoffnung, heute fällt mir etwas ein – aber mir fällt nichts ein.

In so einem Falle ist eine fremde Perspektive oft nützlich. Sie sind auf Mallorca und können trotzdem keine Geschichte schreiben? Dann wechseln Sie doch einmal die Perspektive und schreiben Sie die Geschichte aus der Sicht des oben erwähnten Bierbauchproleten. Können Sie sich vorstellen, wie er die Welt sieht?

Es ist schwierig, natürlich, aber Schreiben, insbesondere wenn man es richtig lernen will, ist eben nicht immer einfach – oft sogar eher eine Qual. Warum wir Schreibenden es trotzdem tun? Tja, manchmal weiß ich das wirklich nicht. 

Kreativität ist nicht nur angeboren, man kann sie auch fördern und verbessern. Durch Übungen wie diese, nämlich eine fremde Welt zu beschreiben, ein Land, in dem man noch nie war, oder eine Geschichte aus der Perspektive eines fremden Menschen, vor allem aus der Perspektive eines Menschen, mit dem man nichts gemeinsam hat – wie unser jetzt schon sprichwörtlicher Bierbauchprolet.

Schon allein die Welt aus der Sicht eines Mannes zu beschreiben, ist äußerst exotisch, wie ich finde. Denn Männer leben und denken nun einmal völlig anders als wir Frauen. Ganz zu schweigen von irgendwelchen körperlichen Gegebenheiten und Reaktionen.

Gerade wenn man sich festgefahren – oder in unserem Falle »festgeschrieben« – hat, kann es wie ein Befreiungsschlag sein, eine völlig andere Hauptfigur zu wählen, eine völlig fremde Perspektive. Dann muß man bei jedem Wort neu überlegen, was die Figur tun oder denken könnte.

Wie schon gesagt ist es Sinn dieser Übungen, sich von der eigenen Erfahrung zu befreien, einen anderen Blick auf die Welt zu gewinnen und sich einen fiktiven Erfahrungshorizont zu erschaffen. So daß die Dinge, die wir dann beschreiben, so exotisch sie auch klingen mögen, wiederum so klingen, als hätten wir sie selbst erlebt.

Ich bekomme das oft zu hören, diese Frage, ob ich all das, was ich beschreibe, selbst erlebt habe. Und die Antwort ist: Nein, habe ich nicht. Was für ein Leben sollte ich geführt haben, um das alles selbst erlebt haben zu können? Dafür bin ich definitiv zu jung. 

Aber im Kopf habe ich es natürlich erlebt. Alles, was ich aufschreibe, wird zu einer Erfahrung, einer Erinnerung, einem Teil meines Lebens. Manchmal kann man kaum mehr unterscheiden, was man selbst erlebt hat oder was man nur für einen Roman erfunden hat. Das ist die beste Garantie dafür, daß die Geschichte den Leserinnen dann auch echt und authentisch erscheint.


Mit dieser 12. Woche und diesem 12. Kapitel stelle ich den Schreibkurs hier auf der Webseite nun ein. Da praktisch keine Texte eingestellt werden, ruft der Kurs wohl im allgemeinen nicht viel Interesse hervor, und so werde ich ihn ab jetzt ausschließlich im Schreibforum weiterführen.