Die Figuren machen die Geschichte
Wenn Sie den Kurs »Wie baue ich einen Roman auf« aufmerksam verfolgt haben, werden Sie erkannt haben, daß es bislang immer nur um die Figuren ging, die Charaktere, die die Handlung bestimmen sollen. Von Handlung war bisher jedoch noch nicht viel die Rede.
Handlung ist wichtig, sehr wichtig sogar, aber mit der Handlung kann ich mich erst beschäftigen, wenn ich weiß, wer handelt.
In Teil 5 habe ich Xena als Beispiel genommen. Die Serie »Xena« ist eine Actionserie, Handlung steht im Mittelpunkt, die Charaktere werden sofort handelnd eingeführt, das ist typisch für Action.
Für einen lesbischen Liebesroman, der vermutlich nicht dem Genre Action zuzuordnen ist , gilt das nur bedingt. Hier müssen wir erst einmal die Figuren kennenlernen, damit wir mit ihnen mitfühlen können. Dieses Kennenlernen kann durchaus durch »Show don’t tell« erfolgen, das heißt, die Figur tut etwas, und dadurch erkennt man, wie sie ist. Wenn die Figur jedoch von Aktion zu Aktion jagt, von Szene zu Szene, wird sie uns schnell langweilen. Und wenn ihr etwas passiert, werden wir das schnell vergessen.
Wir werden nur dann um eine Figur trauern, mit ihr mitleiden, an ihrem Schicksal interessiert sein, wenn wir sie in unsere Familie aufnehmen, wenn sie uns nahe ist.
Wenn ich ein Buch lese, möchte ich mich in mindestens eine der Figuren verlieben können. Deshalb muß ich als Schriftstellerin Figuren erschaffen, in die man sich verlieben kann. Und zuallererst muß ich mich selbst in meine Figuren verlieben. Denn: Wenn ich mich nicht einmal in meine Figuren verlieben kann, wie soll es dann die Lektorin oder Verlegerin tun – oder die Leserin?
Es muß noch nicht einmal die Hauptfigur sein, in die ich verliebt bin, aber eine Figur muß es sein. Diese eine Figur muß mir so sehr ans Herz wachsen, daß ich 24 Stunden am Tag mit ihr zusammensein möchte, daß ich mich nach ihr sehne und soviel wie möglich über sie erfahren möchte.
Stellen Sie sich vor, Sie lesen in der Zeitung:
Heute ereignete sich ein tragischer Unfall.
Eine Frau kam dabei zu Tode.
Das ist tragisch, und das berührt uns sicher auch, aber wir kennen diese Frau nicht, wir haben keine Beziehung zu ihr, wir werden kurz traurig sein, und bald haben wir die Meldung vergessen.
Ganz anders ist es, wenn die Frau uns vorgestellt wird:
Heute ereignete sich ein tragischer Unfall. Eine junge Mutter von 21 Jahren, die gerade auf dem Wege war, mit ihrem sieben Monate alten Baby ihren 22jährigen Ehemann, der dort nach einer schweren Operation endlich aus dem Koma erwacht war, im Krankenhaus zu besuchen, wurde von einem Raser von der Fahrbahn gedrängt und überschlug sich. Sie war sofort tot. Ihr sieben Monate alter Säugling überlebte, weil er aus dem Wagen geschleudert wurde.
Das hält uns schon viel länger fest. Nicht nur eine Frau, sondern auch ein Kind. Nicht nur ein Kind, sondern ein noch sehr kleines Kind. Ein Kind, das die Mutter noch braucht. Und eine junge Frau, die ihr ganzes Leben noch vor sich hat. Dann noch ein junger Mann, der offensichtlich auch um sein Leben kämpfen muß und dem nun die Frau genommen wird, der allein mit dem Kind zurückbleibt, das er nicht versorgen kann. Das Kind wird seine Mutter nie kennenlernen, sich nie an sie erinnern. Und ein Raser, ein verantwortungsloser Kerl, der dieses junge Glück ohne Sinn und Verstand zerstört.
Da hat man alle Bestandteile einer guten Geschichte: Sympathische Protagonisten, ein Bösewicht, ein tragisches Unglück, das gleich drei Leben überschattet, oder vermutlich noch mehr, denn wahrscheinlich haben die junge Frau und der junge Mann ja noch Eltern, Großeltern, Verwandte, Freunde.
Noch schlimmer ist es natürlich, wenn ein solches Unglück jemanden betrifft, den wir kennen, oder sogar ein Mitglied unserer Familie. Das kann unser ganzes Leben erschüttern und aus der Bahn werfen.
Deshalb muß eine Figur, bevor ihr etwas geschieht, erst einmal in den Kreis unser »inneren Familie« aufgenommen sein. Wir müssen sie kennen und lieben, wir müssen an ihrem Schicksal interessiert sein und um ihr Leben bangen.
Beate springt von der Brücke
Wenn der erste Satz Ihres Buches lautet: »Beate sprang von der Brücke«, wird das der Leserin nicht einmal ein müdes Schulterzucken entlocken, denn wer ist Beate?
Nun möchten wir natürlich nicht, daß Beate gleich zu Anfang von der Brücke springt und tot ist. Sie soll ja unsere Hauptfigur sein. Gut, sie könnte von der Brücke springen und nicht tot sein, vielleicht querschnittgelähmt überleben oder den Rhein hinuntergeschwemmt werden und ohne Gedächtnis wieder an Land kommen.
Alles spannende Geschichten, aber nicht unsere. Unsere Beate ist keine Selbstmörderin, auch wenn sie aufgrund ihres Lebens vielleicht Grund dazu hätte. Unsere Beate ist eine Frau, die sich durchbeißt.
Und das erklärt sich aus ihrem Hintergrund, ihrer Biographie.
Unsere Beate ist die Tochter einer ledigen Mutter. Schon einmal eine schwierige Ausgangssituation, denn keinen Vater zu haben, kann als Kind sehr störend sein. Man wird von anderen Kindern gehänselt, man fühlt sich minderwertig, man muß sich immer verteidigen. Fragen an die Mutter ergeben keinen Sinn, denn die Mutter spricht vom Vater immer nur als dem »Strolch«, dem »miesen Drückeberger« oder dem »Schwein«. Beate erfährt nie, wer ihr Vater ist.
Einmal, als Beate in der Schule wieder gefragt wird, was ihr Vater von Beruf macht, ist es ihr so peinlich, zu sagen, daß sie keinen Vater hat und daß sie seinen Beruf nicht kennt, daß sie sich einen Traumvater erfindet. Sie stattet ihn mit all den Eigenschaften aus, die sie sich von einem Vater wünscht. Er ist reich, Bankdirektor, sieht umwerfend aus, spielt mit Beate, so viel er kann, schenkt ihr dauernd teure Sachen und fährt mit Beate und ihrer Mutter jedes Jahr in die schönsten und teuersten Urlaubsgebiete.
Als die Lehrerin der Mutter daraufhin zu ihrer neuen Ehe gratuliert, fliegt die Geschichte auf, und Beate wird, weil sie gelogen hat, zuerst grün und blau geschlagen und dann zu zwei Wochen Hausarrest verurteilt, den sie nur für den Schulbesuch verlassen darf. Beate erinnert sich ihr ganzes Leben lang an diese Demütigung und nimmt sich vor, sich nie wieder erwischen zu lassen, wenn sie sich etwas ausdenkt.
Das allerschlimmste an der Sache ist: Die Lehrerin, die die Sache hat auffliegen lassen, ist Beates Lieblingslehrerin. Beate war vom ersten Schultag an in sie verliebt. Diese Lehrerin ist jung und hübsch und scheint ziemlich unbeschwert. Sie ist das Gegenteil von Beates Mutter, die immer mit Sorgen zu kämpfen hat und jeden Pfennig zweimal umdrehen muß, bevor sie ihn ausgibt. Wenn Beate neue Schuhe braucht – was ständig der Fall ist, wie Beates Mutter verzweifelt bemerkt, weil Beate ja dauernd wächst –, muß ihre Mutter darauf sparen und versagt sich sogar das Essen, damit sie das Geld für ihr Kind zusammensammeln kann.
Beate kann aufgrund ihrer Lüge ihrer Lieblingslehrerin lange Zeit nicht in die Augen sehen – was Beate sehr bedauert, weil die Lehrerin sehr hübsche Augen hat –, obwohl sie bemerkt, daß die Lehrerin sie danach noch netter behandelt als vorher schon. Wahrscheinlich tut Beate ihr leid. Das demütigt Beate zusätzlich, aber sie kann trotzdem nicht von ihrer Liebe zu ihrer Lehrerin lassen, was das Muster für ihr ganzes weiteres Leben sein wird. Sie wird sich immer in Frauen verlieben, denen sie hinterherläuft, die sie aber nicht lieben, sondern höchstens bemitleiden.
Beate hat auch einen Feind auf der Schule, einen rothaarigen Jungen, der sie immer kneift, ihr böse Sachen hinterherruft wie z. B. »Lumpenpack« und stets versucht, ihr Juckpulver in den Pullover zu streuen. Einmal streut er ihr Juckpulver in ihre Sportsachen, und Beate hat daraufhin ein sehr peinliches Erlebnis in der Sportstunde.
Diesen Jungen bekämpft Beate mit allen Mitteln. Sie muß sich einiges einfallen lassen, um ihn zu schlagen. Zwar ist sie in der Schule weit besser als er, aber das interessiert ihn nicht, also muß sie lernen, ihn da zu schlagen, wo es ihm wehtut, bei seinen Freunden zum Beispiel oder beim Sport oder bei den Mädchen. So lernt Beate sich im Leben durchzusetzen.
Eines der schlimmsten Erlebnisse für Beate ist es, als sie größer ist und eine Lehre macht, daß eine Freundin, der sie vertraut hat, sie hintergeht. Beate hat dieser Freundin im Vertrauen davon erzählt, daß sie auf Frauen steht, und diese Freundin spinnt daraus eine Intrige gegen Beate, die Beate die Lehrstelle kostet und viel Spott und Hohn von den Kolleginnen und Kollegen einbringt. So lernt Beate, daß man sich auf niemand verlassen kann und daß man niemand vertrauen sollte als sich selbst.
Beates Traumberuf wäre Polizistin gewesen, aber sie wurde bei der Bewerbung abgelehnt, weil sie eine Brille trägt. Daraufhin trägt Beate, nachdem sie es sich leisten kann, nur noch Kontaktlinsen.
Beates erste große Liebe ist eine Frau, die etliche Jahre älter ist als Beate. Mit ihr hat Beate das erste Mal Sex und fühlt sich wie auf Wolken schwebend, als wäre sie jetzt endlich ein vollkommener Mensch. Leider ist diese erste große Liebe verheiratet und sucht sich nur immer wieder junge Mädchen, wenn sie sich mit ihrem Mann gestritten hat. Wieder eine Enttäuschung, die Beate härter macht.
Einmal, im Urlaub, hat Beate das Gefühl, jetzt endlich angekommen zu sein. Sie wünscht sich, in ihrem Traumland bleiben zu können. Aber das geht nicht, weil sie nach dem Urlaub nach Hause zurück muß. Sie muß ja Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen.
Man sieht, Beate hätte durchaus den einen oder anderen Grund, von einer Brücke zu springen, aber sie tut es nicht. Sie ist nicht der Typ. Wenn nun aber etwas mit Beate geschieht, nachdem wir sie so gut kennengelernt haben, wird Beate uns nicht mehr gleichgültig sein. Wir werden mit ihr leiden und um ihr Wohl besorgt sein.
Wenn wir also nun beobachten, daß Beate über eine Brücke geht, sich rechts und links umblickt und dann am Geländer hochzieht, werden wir laut schreien: »Nein, tu das nicht! Es wird alles wieder gut!«
Aber wie gesagt: Beate springt nicht von Brücken. Doch wir können mit ihr mitfiebern und hoffen, daß sie noch ihr Glück findet, eine Frau, die sie liebt, und einen Sinn im Leben, der nicht nur darin besteht, jeden Pfennig zusammenzukratzen und zu sparen. Denn wir wissen jetzt: Sie hat es verdient, nach allem, was sie schon durchgemacht hat.
Deshalb ist es so wichtig, daß Sie Biographien für Ihre Figuren erfinden, daß Sie wissen, was jede Ihrer Figuren zu jedem Zeitpunkt in ihrem Leben gemacht hat, in der Schule, in der Lehre, im Studium, im Beruf, in Liebesdingen, in der Familie.
Nehmen Sie Ihre Figuren in Ihre Familie auf, damit auch die Leserin sie beim Lesen als Familienmitglieder erkennt.