Immer wieder stoße ich auf Seiten im Internet, die sich mit Schreiben beschäftigen. Eine dieser Seiten ist »A Story Is A Promise«. Ich finde allein schon den Titel faszinierend, weil er so zutreffend ist.

Was wir als Leserinnen selbstverständlich erwarten – nämlich daß eine Geschichte ein Versprechen ist, das eingehalten werden muß –, vergessen wir als Schreiberinnen oft.

Es ist das alte Problem von Subjektivität versus Objektivität. Subjektiv sind wir vielleicht der Meinung, daß wir eine interessante Geschichte schreiben, weil die Geschichte uns selbst interessiert. Das sollte sie auch. Eine Geschichte, die mich nicht einmal selbst interessiert, wen sollte die sonst interessieren?

Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – die Geschichte sollte nicht nur uns selbst interessieren, sondern auch für andere nachvollziehbar oder in irgendeiner Form spannend sein. Dieser Schritt wird von der Autorin oft nicht gemacht.

Als Autorin muß man sich immer wieder in die Position der Leserin begeben, man muß sich vorstellen, wie es ist, wenn ich ein Buch im Regal der Buchhandlung stehen sehe (oder in einem Onlineshop auf dem Internet), was ich dann erwarte, warum ein Buch mich anzieht, warum ich es vielleicht aufschlage und kaufe. Warum ich es lesen will.

Da ist sicherlich zuerst einmal das Cover und der Titel. Ein langweiliges, farbloses Bild und der Titel »Meine ersten 25 Jahre in Kleintupfingen« wird vermutlich niemand zum Kauf verleiten. Darum brauche ich mir als Autorin jedoch beim Schreiben noch keine Gedanken zu machen, das ist Sache des Verlages. Es sei denn, ich verlege mein Buch selbst, bei BoD oder einem der vielen »Wir drucken alles«-Verlage, wo ich die Herstellungskosten dann auch noch selbst tragen muß.

Ich war erstaunt, als ich eben gerade in Google das Stichwort »Autoren« eingab. Die ersten Einträge zu diesem Stichwort und alle Google-Anzeigen in der Seitenleiste lauten »Autoren gesucht«, »Manuskripte gesucht« oder so ähnlich. Leider stellt sich dann heraus, daß die Verlage, die dort inserieren, alle erst einmal Geld vom Autor oder der Autorin haben wollen. Ein sogenannter »klassischer Verlag«, wie es auch der el!es-Verlag ist, tut so etwas nicht.

Wie gesagt, über solche Dinge braucht sich die Autorin beim Schreiben noch keine Gedanken zu machen. Man muß ja erst einmal ein Buch haben, bevor man es drucken kann. Und das Buch muß so gut sein, daß es seine Leserinnen nicht enttäuscht. Hat also das Cover und der Titel die Leserin angezogen, liest sie den Klappentext und schlägt das Buch eventuell auf.

Wenn sie das tut, ist aber immer noch nichts gewonnen, denn nun kommt es auf den Inhalt an, und dafür ist in erster Linie die Autorin verantwortlich. Den ganzen Inhalt kann die Leserin beim ersten Blättern in der Buchhandlung oder beim Blättern in den Leseproben in unserem Shop natürlich nicht erfassen, das würde zu lange dauern, deshalb beschränkt sie sich meist auf den Anfang, manchmal sogar nur auf den ersten Satz. Wenn der erste Satz sie nicht sofort neugierig macht, liest sie nicht weiter und klappt das Buch zu.


Deshalb sind erste Sätze so wichtig. Sol Stein schreibt in seinem Buch »Über das Schreiben«, daß der Leser gerade einmal sieben Sekunden braucht, um zu entscheiden, ob er das Buch will oder nicht, ob er es interessant findet oder nicht. Dann legt er es entweder weg oder er kauft es.

Was kann man in sieben Sekunden lesen? Höchstens den ersten Satz. Deshalb muß der erste Satz ein »Knaller« sein, und das bedeutet: ein Versprechen. Ein Versprechen, daß ich dieses Buch gut finden werde, daß es mir spannende, romantische oder humorvolle Unterhaltung bietet. Wenn man es geschafft hat, einen solchen Satz zu finden, muß man das Versprechen natürlich auch einhalten.

Von der »Initiative deutsche Sprache« wird zur Zeit sogar nach dem »schönsten ersten Satz« mit einem Wettbewerb gefahndet:

Menschen aller Altersgruppen sind eingeladen, den Titel eines deutschsprachigen Buchs zu nennen, dessen erster Satz sie besonders bezauberte, beeindruckte oder neugierig machte. In Frage kommen Romane und Erzählungen, von der Unterhaltungsliteratur bis zu den Klassikern, sowie Kinder- und Jugendliteratur deutschsprachiger Autoren. (Text von der Webseite)

Einsendeschluß ist der 21. September 2007.

Übrigens: Den ersten Satz von »Harry Potter« einzusenden ist zwecklos, J.K. Rowling ist keine deutschsprachige Autorin.

Der Satz allein reicht auch nicht, man muß seine Wahl begründen.

Welche Erwartungen weckt der erste Satz? Welche Stimmung löst er aus? Und vor allem: Hält die Geschichte, was der erste Satz verspricht? (Text Webseite)

Da ist es wieder, das Versprechen . . . und seine Einhaltung.

Unerfahrene Autorinnen beginnen eine Geschichte oft mit uninteressanten Details, mit einer Beschreibung der Figuren oder mit einem Ereignis, das völlig zusammenhanglos im Raum steht und auch nicht als etwas Besonderes erscheint.

So zum Beispiel: »Ich fuhr mit meinem kleinen Auto die Straße entlang.«

Hm. Interessiert mich das? Mich als Leserin? Nein. Das ist etwas, was jede und jeder jeden Tag tut. Das interessiert niemand. Es ist kein Versprechen für eine auch nur im Ansatz spannende Geschichte.

Das bedeutet, jede Leserin wird dieses Buch – falls es denn je gedruckt worden sein sollte – sofort wieder zuschlagen und zum nächsten greifen, in der Hoffnung, daß es einen spannenderen ersten Satz enthält, ein Versprechen, das neugierig macht und eine in die Geschichte hineinzieht, das eine Verlockung darstellt.


Hier hingegen ist ein erster Satz, der ein humorvolles (oder satirisches) Buch verspricht:

»Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen.«
Irene Dische, Großmama packt aus

Erste Sätze können auch lang sein, obwohl kurze meiner Ansicht nach besser und vor allem prägnanter sind, aber wer wird bei diesem ersten Satz nicht weiterlesen wollen?

»Wenn Maggie Blackburn Jahre später an diesen Vorfall zurückdachte, hätte sie sich mit dem Wissen, was daraus werden würde – was sich alles daraus ergeben sollte –, nicht die Frage stellen wollen, ob sie ihre Party an jenem Tag gegeben und dazu die nämlichen Gäste eingeladen hätte.«
Joyce Carol Oates, Das Frühlingsopfer
(engl. Nemesis)

Ein sehr kurzer Satz, der trotzdem gleich eine beklemmende Stimmung erzeugt, ist:

»Last night, I dreamt I went to Manderley again.«
Daphne du Maurier, Rebecca

Wir alle wissen – wenn nicht durch das Buch, dann durch den Film –, was der armen, namenlosen Protagonistin in Manderley widerfährt beziehungsweise widerfahren ist, und es schaudert uns. Aber selbst, wenn man dieses Wissen nicht hat, scheint es nicht harmlos zu sein, daß die Heldin von Manderley träumt.

Dieser Satz beinhaltet vieles in komprimierter Form. Die Protagonistin hat in der vergangenen Nacht geträumt, uns schwant nichts Gutes, und sie erzählt, daß sie von Manderley geträumt hat – ein Name, der uns nichts sagt –, und nicht nur, daß sie davon geträumt hat, sondern daß sie geträumt hat, sie ginge wieder dorthin, sprich, sie war schon einmal da.

Das wirft viele Fragen auf.

  • Warum träumt sie von Manderley?
  • Was ist Manderley überhaupt?
  • Wie ist sie dort hingekommen, warum war sie dort?
  • Warum ist sie es heute anscheinend nicht mehr?
  • Und was um Himmels willen ist dort Schreckliches geschehen?

Wer nach einem solchen Anfang nicht weiterliest, muß übermenschliche Beherrschung besitzen.

Und Aufgabe der Autorin ist es, das Versprechen, das ihr erster Satz erzeugt hat, nun einzulösen, und der Leserin alle ihre Fragen zu beantworten, in spannender und unterhaltender Form.

Ich glaube, niemand bezweifelt, daß Daphne du Maurier dies gelungen ist.

* * *

Hier gibt es zwar nichts zu gewinnen, aber wenn Sie möchten, können Sie Ihren Lieblingssatz aus einem Buch hier einstellen. Es muß kein erster Satz sein, aber er sollte das Zeug zu einem ersten Satz haben.

Möglichst sollte der Satz von einer Frau stammen, am allerliebsten natürlich von einer lesbischen Autorin. Bitte geben Sie die Autorin und den Titel des Buches, aus dem der Satz stammt, mit an.

Ich freue mich auf ganz viele erste (zweite, dritte oder . . .) Sätze!