Talent, Begabung – ja, natürlich, das ist schon wichtig, aber was beim Lesen wirklich fesselt, ist meistens die Kunst, das Handwerk richtig anzuwenden.

Wenn also Geschichten fesselnd sind – woran liegt das?

Es gibt kein Geheimrezept dafür, aber was ich festgestellt habe, ist: Wenn eine Geschichte mit einem Dialog beginnt, kommt man besser in die Geschichte hinein.

Es ist eigentlich eher die Methode, die man bei Kurzgeschichten anwendet, weniger bei Romanen, aber ich wende sie jetzt meistens trotzdem bei meinen Romanen an.

Durch ein paar Zeilen Dialog springt man direkt in die Geschichte hinein. Man hält sich nicht mit Figurenbeschreibungen (die sollte man vorher gemacht haben) auf, sondern es passiert sofort etwas.

Und eins ergibt sich aus dem anderen. Wenn die Figuren erst einmal miteinander sprechen, kann man beim Schreiben sehr leicht den nächsten Satz finden, denn er ist die Antwort auf den vorherigen.

Also nehmen wir einmal den ersten Satz der Schreibübung »Die verfluchte erste Zeile – Teil 2«, nur den ersten.

»Wenn du mich nicht sofort küßt, schlage ich dich«, sagte sie.

Hm. Was fällt mir dazu ein? Ist das eine liebevolle Kabbelei oder ein ernsthafter Streit?

Zu diesem Zeitpunkt könnte es noch beides sein.

Sagen wir mal, wir gehen davon aus, daß es eine liebevolle Kabbelei ist, wie reagiert man darauf, wenn man real in einer solchen Situation ist?

Man lacht. Es ist ja nicht ernstgemeint, was die andere sagt, also bringt man das zum Ausdruck. Und dann erwidert man etwas Liebevolles.

Daraufhin antwortet die andere wieder mit entweder etwas Liebevollem oder etwas Neckischem usw.

So habe ich es in der Geschichte, die ich zu der Schreibübung geschrieben habe, gemacht.

Man muß sich die Szene einfach nur vorstellen und genau das hinschreiben, was man sieht. Es ist ein Film, der vor dem eigenen inneren Auge abläuft.

Ich werde in dem entsprechenden Teil der »Schreibschule« (Wie baue ich einen Roman auf?), in dem es dann um den Anfang geht, darauf zurückkommen.

Der erste Satz – mein eigener erster Satz in meiner eigenen Geschichte – ist entscheidend.

Wenn ich einen langweiligen ersten Satz habe, werde ich noch nicht einmal in meine eigene Geschichte hineingezogen, wie soll es dann erst der Leserin ergehen?

Wenn ich einen langweiligen ersten Satz habe, fällt mir kein zweiter dazu ein, keine Szene, keine Geschichte.

Also muß ich vor allem nach einem ersten Satz suchen, der mich selbst interessiert, der eine Szene, eine Geschichte vor mir entstehen läßt.

»Er lächelte, als sie ihm den Kopf abschlugen.«

Das ist ein erster Satz – toll!

Zwei völlig gegensätzliche Gefühle kommen da in der Leserin auf, und das macht die Sache interessant.

Denn dieser erste Satz stellt viele Fragen, die die Leserin beantwortet haben möchte.

  • Warum lächelt er?
  • Warum wird ihm der Kopf abgeschlagen?
  • Wann spielt das Ganze?
  • Wie ist er in diese Situation gekommen?
  • Wer ist derjenige überhaupt, der da erwähnt wird?

Und vielleicht noch ein paar weitere.


Wenn ein erster Satz so viele interessante Fragen hervorruft, ist er gut. Denn es ist ein urmenschliches Bedürfnis, weiterzulesen, um diese Fragen beantwortet zu bekommen.

Nun muß das Buch allerdings auch spannend weitergehen. Wenn der erste Satz gut ist und der Rest des Buches nicht, nützt das natürlich auch nichts.

Das allerwichtigste, wenn ich selbst schreibe, ist aber: Finde ich meine eigenen Geschichten fesselnd und spannend? Würde ich das lesen, wenn eine andere Autorin es geschrieben hätte? Oder würde ich es dann weglegen, weil es mich langweilt?

Nur wenn man sich in Distanz zu dem begibt, was man selbst geschrieben hat, wenn man es wieder liest und dabei wie eine Fremde darauf schaut, kann man erkennen, ob eine Geschichte gut ist, ob sie auch andere fesselt.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich – bevor ich mein erstes Buch »Taxi nach Paris« schrieb – die Inhalte einiger Lesbenkrimis analysiert habe, unter anderem auch den von »Unterricht in Mord« von Claire McNab. Es gab ja damals noch nichts anderes, worin lesbische Liebesszenen vorkamen, vor allen Dingen in Deutschland nicht. Diese Art Bücher gibt es in Deutschland erst, seit es den el!es-Verlag gibt.

Also analysierte ich die Liebesszenen der Lesbenkrimis. Und eins fiel mir dabei auf: Immer wenn es prickelnd wurde, wenn die beiden Frauen sich näherkamen, folgte ein Ereignis, das die beiden wieder auf Distanz brachte, entweder ein äußerliches – die eine war die Kommissarin und die andere die Mordverdächtige – oder ein inneres: »Ist sie überhaupt lesbisch?«, »Wie wird sie reagieren?«, »Darf ich das überhaupt?«

Das heißt, es war ein ständiges Auf und Ab und Hin und Her. War eine Szene zärtlich, dann gab es in der nächsten einen Streit, oder eine kriminalistische Untersuchung ergab, daß sich der Mordverdacht erhärtete, was für die Kommissarin bedeutete, sich zurückzuziehen.

Dadurch schaffte Claire McNab es, die Spannung aufrechtzuerhalten. Man war sich nie sicher, kommen die beiden jetzt zusammen oder nicht? Hat sie den Mord begangen oder nicht? Was ist, wenn sie den Mord begangen hat, die Kommissarin sie aber trotzdem liebt und nicht davon lassen kann? Was ist, wenn die Mordverdächtige sie nur ausnutzt, weil sie tatsächlich die Mörderin ist und will, daß die Kommissarin sie aus Liebe laufenläßt?

Eine Geschichte, die nur so dahinplätschert, die einfach ein Ereignis nach dem anderen erzählt, ohne daß es einen Gegensatz gibt, ohne daß die Stimmung wechselt, ist tödlich langweilig.

Eine Geschichte, die sich bemüht, mit Konflikten zu arbeiten, bei der sich Konflikt und Harmonie abwechseln, wird immer wesentlich spannender sein.