Reden wir mal über Vorbilder. Kürzlich wurde mir das nette Kompliment gemacht, ich könnte Leute gut über Dialog charakterisieren. Als ich zu schreiben begann – ich meine jetzt, professionell zu schreiben, keine Schulaufsätze, Briefe oder Arbeiten für die Uni – war Dialog für mich nicht unbedingt ein Mittel zur Charakterisierung einer Person. Damals wußte ich noch gar nichts darüber, wie man eine Person charakterisiert, ich sah nur an den Autorinnen, die ich gern las, daß sie es konnten.

Und da kommen die Vorbilder ins Spiel. Meines Erachtens – und das ist wohl die Meinung so gut wie aller, die sich professionell mit Schreiben beschäftigen –, kann man keine gute Autorin werden, wenn man nicht wie verrückt liest.

Schon als kleines Kind habe ich gelesen so viel ich konnte. Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal krank im Bett lag – ich kann nicht viel älter als sieben oder acht gewesen sein – und meine Mutter mich fragte, was ich gern lesen wollte. Damals war das für mich eindeutig: Bücher über Hunde und Pferde. Das war das, was mich interessierte.

Also ging sie in die Stadt, kaufte einige Bücher – einen ziemlichen Stapel – und legte sie mir ans Bett. Es waren keine dünnen Bücher, da war zum Beispiel Lassie kehrt zurück oder Blitz, der schwarze Hengst – beides Bücher, die weit über 200 Seiten haben –, aber trotz dieses Riesenstapels dauerte es nicht lange, bis ich alle Bücher durch hatte. Ich war noch lange nicht gesund, als mir bereits das Lesefutter ausging.

Meine Mutter schaute ganz erstaunt auf den Stapel an meinem Bett und meinte: „Hast du die alle schon gelesen?“

Ja, hatte ich, und ich hatte davor schon Bücher gelesen, und danach las ich noch viel, viel mehr Bücher. Fernsehen oder Filme waren damals für mich weit reizloser. Ein Buch zu lesen und ganz in dessen fiktiver Welt zu versinken – das war mit nichts vergleichbar. Da konnte man mich sogar ansprechen, und ich bekam nichts davon mit. Es war, als wäre ich auf einem anderen Planeten.

Seit den ersten Tagen, als ich lesen lernte, war Lesen für mich eine der wichtigsten Beschäftigungen, wenn nicht sogar die wichtigste überhaupt. Und selbst aus den Hunde- und Pferdebüchern habe ich etwas über Stil gelernt, darüber, wie man einen guten Unterhaltungsroman schreibt. Denn darum geht es bei allen Büchern, die in diese Kategorie fallen, ob es Tierbücher, Liebesromane oder Krimis sind.

Später, als ich älter wurde, entdeckte ich eine große Liebe für Krimis. Und für Science-Fiction. Auch das sind reine Unterhaltungsgenre. Kein Autor in diesem Bereich kann überleben, wenn er sein Publikum nicht unterhält. Langeweile ist nicht gestattet. Zumindest nicht, wenn man davon leben will.

Aber selbst, wenn man es nur als Hobby betreibt – selbst Agatha Christie, die erfolgreichste Autorin aller Zeiten, hielt es anfangs nur für ein Hobby, was sie tat –, möchte man gelesen werden. Vielleicht auch ein wenig bewundert für das, was man schreibt.

So wie man die Autorinnen und Autoren bewundert, die man seit seiner Kindheit gelesen hat. Wenn man selbst zu schreiben beginnt, ist es einem noch nicht so ganz klar, wieviel Einfluß diese Autorinnen und Autoren auf den eigenen Stil gehabt haben und immer haben werden.

Von Kindheit an nimmt man grammatische Formen in sich auf, Wörter, Redewendungen (etwas, das die heutigen deutschen Autorinnen und Autoren zum Teil völlig vergessen haben. Sie kennen die englischen bzw. amerikanischen Redewendungen, die deutschen aber nicht. Was zeigt, daß sie kaum je deutsche Bücher gelesen und sich ihrer Muttersprache offenbar massiv entfernt haben), auch den Stil, in dem in der Familie oder in der Schule, in der Region, in der man aufgewachsen ist, gesprochen wird.

Am meisten aber prägen Bücher, denn das ist geschriebene Sprache, so wie man sie selbst später dann schreiben will und wird.

Wenn man älter wird, kann man das, was man liest, auch analysieren und so auch noch bewußter davon lernen.

Das hier ist der Anfang von „Die Tote in der Bibliothek (The Body in the Library)“ von Agatha Christie:

Mrs. Bantry träumte. Ihre Wicken hatten eben an einer Blumenausstellung den ersten Preis gewonnen. In Stola und Soutane gekleidet verteilte der Pfarrer die Preise in der Kirche. Seine Frau spazierte vorüber, nur mit einem Badeanzug bekleidet. Aber, wie das so in Träumen geht, erregte diese Tatsache keineswegs die Mißbilligung der Gemeinde, was im wirklichen Leben zweifellos der Fall gewesen wäre ...

Mrs. Bantry genoß ihren Traum sehr. Sie genoß meistens diese Morgenträume, welche durch die Ankunft des Frühstücks ihr Ende fanden. Irgendwo in ihrem Unterbewußtsein hörte sie dabei die vertrauten Geräusche des erwachenden Haushalts. Das Rasseln der Vorhangringe auf der Treppe, wo das Stubenmädchen die Gardinen aufzog. Das Hin- und Hergehen des zweiten Dienstmädchens, welches sich mit Besen und Schaufel draußen auf dem Korridor zu schaffen machte. Und in der Entfernung den dumpfen Ton des schweren Riegels, der von der Eingangstür zurückgezogen wurde.

Das ist kein Dialog, und die Geschichte scheint hier auch noch gar nicht loszugehen, aber trotzdem liest man weiter, um zu erfahren, was in diesem Haushalt passieren wird.

Wir wissen es bereits: Es wird die Leiche eines jungen Mädchens, das niemand im Haus je zuvor gesehen hat, in der Bibliothek gefunden werden.

Dennoch geht es nicht mit dieser Sensation los. Ich muß zugeben, so hätte ich es wahrscheinlich gemacht. Ich hätte direkt mit dem Schrei angefangen, der durchs Haus hallt, als die Leiche gefunden wird.

Das heißt, mein Stil unterscheidet sich eindeutig von dem Agatha Christies, obwohl sie eines meiner großen Vorbilder ist. Man braucht also keine Angst zu haben, daß eine der Stil eines Vorbilds absorbiert. Jedenfalls nicht, wenn man erwachsen und schriftstellerisch einigermaßen gefestigt ist.

Zu Anfang kann das durchaus vorkommen. Als ich 15 war, schrieb ich für die Schülerzeitung, und ich schwärmte damals sehr für die Satiren von Ephraim Kishon, hatte alle seine Bücher gelesen. Als ich nun für die Schülerzeitung etwas schreiben sollte, wurde es tatsächlich eine Satire im Stil von Kishon, denn ich war noch zu jung, um einen eigenen Stil zu haben.

Die Satire war gut, aber heute würde ich sie so wohl nicht mehr schreiben, denn mein Stil hat sich sehr davon entfernt.

Damals jedoch war es eine gute Übung, deshalb muß man sich nicht darüber ärgern, wenn man am Anfang ein bißchen die Vorbilder imitiert. Je mehr man schreibt, desto mehr entwickelt man einen eigenen Stil. Deshalb empfehle ich ja auch immer, regelmäßig zu schreiben, und wenn es nur ein paar Wörter am Tag sind. Jedes Wort bringt einen weiter in die richtige Richtung.

Das heißt: Wenn man auch darüber nachdenkt, was man tut, und nicht einfach nur so vor sich hinschreibt. Das nützt nicht viel, glaube ich, weil man ja dieselben Fehler immer wieder macht und nie vorankommt. Im Gegenteil, die Fehler werden auch noch verfestigt.

Lesen ist also sehr wichtig, aber wenn man sich wirklich professionell mit dem Schreiben beschäftigen will, dann ist es auch wichtig, das, was man liest, zu analysieren. Sonst nützt auch das beste Vorbild nichts.

Und ebenso muß man dann das analysieren, was man selbst schreibt – so, als ob es jemand anderer geschrieben hätte.

  • Warum habe ich ausgerechnet diese Anfangsszene gewählt?
  • Was will ich damit aussagen?
  • Was will ich der Leserin vermitteln?
  • Wie wahrscheinlich ist es, daß das, was ich vermitteln will, auch bei der Leserin ankommt?
  • Würde es bei mir ankommen, wenn die Autorin nicht ich wäre, sondern beispielsweise eines meiner Vorbilder?

Natürlich ist es nicht einfach, sich selbst so distanziert gegenüberzustehen, aber es hilft, wenn man es schafft. Wenn man gute Betaleserinnen hat, ist das noch besser, nur habe ich festgestellt, daß diese Leserinnen manchmal auch in die Irre führen können. Vor allem, wenn sie alles, was man schreibt, toll finden.

Die meisten Leute sind es nicht gewöhnt, Texte zu analysieren, und ein „Gefällt mir“ oder „Gefällt mir nicht“ bringt eine als Autorin nicht wirklich weiter. Das haben wir, die wir schreiben, alle schon enttäuscht feststellen müssen.

Um noch einmal auf Agatha Christie zurückzukommen: Zum Teil habe ich von ihr auch gelernt, wie man Leute durch einen Dialog charakterisiert. Noch einmal „Die Tote in der Bibliothek“:

Es klopfte. Aus der Tiefe ihres Traumes auftauchend, rief Mrs. Bantry automatisch: „Herein!“ Die Tür öffnete sich – jetzt würden die Vorhangringe klappern, und es würde hell im Zimmer werden.

Aber die Vorhangringe klapperten nicht. Sondern aus dem dämmergrünen Licht kam Marys Stimme – atemlos, hysterisch: „Oh, Madam, oh, Madam, es liegt eine Leiche in der Bibliothek!“

Dann brach das Mädchen in hysterisches Schluchzen aus und stürzte aus dem Zimmer.

Mrs. Bantry setzte sich im Bett auf.

Entweder hatte ihr Traum eine sehr merkwürdige Wendung genommen, oder aber – oder aber Mary war wirklich hereingestürzt und hatte gesagt (unglaublich phantastisch!), daß eine Leiche in der Bibliothek liege.

„Unmöglich“, sagte Mrs. Bantry zu sich selbst. „Ich muß geträumt haben.“

Aber während sie dies sagte, wurde es ihr immer klarer, daß sie nicht geträumt hatte. Daß Mary, ihre überlegene, selbstbeherrschte Mary tatsächlich diese unglaublichen Worte gerufen hatte.

Mrs. Bantry überlegte eine Minute. Dann bedachte sie ihren schlafenden Gatten mit einem herzhaften Ellbogenstoß. „Arthur, Arthur! Wach auf!“

Colonel Bantry stöhnte, murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite.

„Wach auf, Arthur! Hast du gehört, was Mary sagte?“

„Höchstwahrscheinlich“, kam es undeutlich von Colonel Bantry. „Du hast ganz recht, Dolly“, und unverzüglich schlief er wieder ein.

Mrs. Bantry schüttelte ihn. „So hör doch! Du mußt hören! Mary kam herein und sagte, es liegt eine Leiche in der Bibliothek.“

„Ah-was?“

„Eine Leiche in der Bibliothek.“

„Wer sagt das?“

„Mary.“

Colonel Bantry suchte sich zu sammeln und die Situation zu erfassen. Er sagte: „Unsinn, mein Gutes; du hast geträumt.“

„Nein, ich habe nicht geträumt. Zuerst hab'' ich auch geglaubt, es sei ein Traum. Aber es ist wahr. Sie ist wirklich hereingekommen und hat das gesagt.“

Ja, natürlich, diese Beschreibung einer Ehe ist ein Klischee, aber dennoch hat man sofort einen Eindruck davon, wie diese beiden miteinander leben. Sowohl Mrs. Bantrys Charakter als auch der ihres Mannes ist nach dieser kleinen Szene ziemlich klar.

Jede Schriftstellerin, die nicht Agatha Christie ist, würde diese Szene sicherlich anders schreiben, und dennoch kann man davon lernen.

Was sehen Sie, wenn Sie diese Szene analysieren? Wie macht Agatha Christie das, daß die Figuren lebendig werden?

Wenn Sie selbst den Ehrgeiz haben, ein Buch zu schreiben oder sogar schon dabei sind, sollten Sie diese Frage beantworten können.