Die Struktur einer Szene verfeinert sich von oben nach unten immer mehr, vom Großen ins Kleine.
Das haben wir bisher in Szenen schreiben I erarbeitet:
A. Aufregung
- Ziel
- Konflikt
- Katastrophe
B. Beruhigung
- Reaktion
- Klemme
- Entscheidung
Nun gehen wir in die Unterpunkte. Hier geht es jedoch in jedem um dasselbe:
a) Motivation
b) Reaktion
Egal, ob Ziel, Konflikt oder Katastrophe, Reaktion, Klemme oder Entscheidung. Diese kleinen, kurzen Einheiten sind das tatsächliche Herz, aus dem die größere Struktur entsteht.
Da ich normalerweise immer am Anfang eines Buches beginne und die erste Szene schreibe, könnten wir das einmal für die erste Szene ausprobieren.
Unsere ursprüngliche Zusammenfassung des ganzen Buches war:
„Die Protagonistin verliebt sich in eine Frau, die schon oft in ihrem Leben enttäuscht worden ist und sich deshalb nicht mehr auf Liebe einlassen will. Mit Charme und Hartnäckigkeit versucht sie die andere davon zu überzeugen, dass sie die Richtige für sie ist.“
Das sind 43 Wörter, also doch etwas lang. Versuchen wir es mit einer kürzeren Fassung:
„Eine Zirkusartistin verliebt sich in eine Lehrerin, die keine Beziehung will, weil sie schon zu oft enttäuscht worden ist.“
19 Wörter. Perfekt. Was die Sache erleichtert hat, war die Weiterentwicklung vom Allgemeinen (Protagonistin, eine Frau) zum Konkreten (Zirkusartistin, Lehrerin). Mit der Angabe der Berufe können wir uns die beiden Personen schon wesentlich besser vorstellen.
Logisch ist es nun, mit der aktiven Person zu beginnen. Das ist die Protagonistin, die Zirkusartistin.
„Ein Zirkus! Ein Zirkus!“
Wild sprangen die Kinder auf der Straße vor den bunten Wagen herum, die langsam die Hauptstraße entlangfuhren.
Zelda saß auf dem Wagen, den ihre Mutter fuhr, und schaute aus dem Fenster in die aufgeregte Schar, die nun die Kolonne wie ein Mückenschwarm begleitete.
Es war in jeder Stadt dasselbe. Vor kurzem hatte sie ihren 19. Geburtstag gefeiert, und sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es je anders gewesen war.
Natürlich war es das auch nie gewesen. Ihre Familie war seit Generationen eine Zirkusfamilie, die ununterbrochen herumzog. Zelda war in Dutzende verschiedener Schulen gegangen, immer an dem Ort, an dem sie gerade waren.
Diese Schulen waren für sie jedoch nie so besonders wichtig gewesen. Viel wichtiger war die Zirkusschule. Dort hatte sie gelernt, was sie wirklich brauchte. Sie flog am Trapez von einer Seite zur anderen wie ein Vogel.
Sie fühlte, wie etwas über ihr entlangstrich. Ein leises Scharren war zu hören. Neugierig blickte sie nach oben, aus dem hinteren Fenster in den Himmel. Dort war ein Banner quer über die Straße gespannt. 100 Jahre Kaiserin-Augusta-Schule, stand darauf. Großes Schulfest mit Basar. Sie sind herzlich eingeladen!
100 Jahre Schule. Zelda schauderte. Das war eine schreckliche Vorstellung.
Dennoch hingen ihre Augen an dem Transparent, bis es ihren Blicken entschwunden war.
Hier entsteht eine Motivation, das ist deutlich zu spüren. Zelda hat bisher ein sehr unstetes Leben geführt, und es ist für sie unvorstellbar, dass sich daran etwas ändert. Dennoch schlummert in ihr eine Sehnsucht nach Beständigkeit, so bedrohlich sie die auch findet.
Dass ihre Blicke so lange an dem Transparent kleben, zeigt, dass ihre instinktive Reaktion des Schauderns nicht alles ist. Etwas zieht sie an der durch das Transparent vermittelten Aussage an.
Gleichzeitig sehen wir hier schon das Konfliktpotential: Eine Zirkusartistin, deren klassische Schulausbildung eher lückenhaft ist, wird eine Lehrerin treffen, der Schule alles bedeutet.
Dies ist die erste, kleinste Einheit unseres Buches. Aus diesem Interesse entsteht Neugier und daraus die Motivation, das Schulfest zu besuchen.
Schulfest
„Kann ich Ihnen helfen?“ Ein sanfte Stimme sprach Zelda an, als sie das Gebäude betrat.
Zelda hatte lange überlegen müssen, bevor sie hergekommen war, und ihren Eltern hatte sie nichts gesagt. Sie waren durchaus der Meinung, dass man Lesen, Schreiben und Rechnen lernen musste – insbesondere, um die Einnahmen der Vorstellungen zusammenzählen zu können –, aber viel mehr auch nicht. Dass ein Zirkuskind freiwillig in die Schule ging, kam eher selten vor, um nicht zu sagen nie.
Ihr Leben war der Zirkus, nicht die Welt der Menschen, die jeden Tag in die Schule oder ins Büro gingen, die Wert auf Papier legten, das ihnen bescheinigte, dass sie irgendeine Ausbildung abgeschlossen hatten. Für die Zirkusausbildung gab es keine Bescheinigungen. Man konnte es oder man konnte es nicht. Und das konnte jeder sehen, der eine Vorstellung besuchte. Wie eine Art ständig wiederholtes Examen. Sie mussten ihre Fähigkeiten jeden Tag neu beweisen, nicht nur einmal an einem Prüfungstermin.
„Nein, ich … ich weiß nicht.“ Zelda schluckte. Es war doch nicht so einfach, wieder in die Schule zu gehen – selbst wenn man keine Schülerin mehr war.
Hier sehen wir nun sehr gut das Wechselspiel zwischen Motivation und Reaktion. Zelda geht heimlich zum Schulfest, das heißt, ihre Motivation muss sehr groß sein, aber als sie die Schule betritt, wird sie auf ihre nicht sehr erfolgreiche Schulkarriere zurückgeworfen, und ihre Reaktion ist Zweifel.
Der nächste Schritt müsste nun also wieder Motivation sein, dann wieder die Reaktion, die entweder die Motivation bestätigt oder sie in Frage stellt. Es ist ein ständiges Hin und Her, Auf und Ab, und das treibt die Geschichte voran. Eine Reaktion erzeugt eine erneute Motivation und umgekehrt. Es gibt keinen Stillstand.
Gleichzeitig erfolgt hier die erste Begegnung mit der Lehrerin, in die sie sich verlieben wird. Das heißt, die Zweifel, die bei Zelda entstanden sind, ob sie überhaupt hierhergehört, werden im nächsten Teil der Szene von der Attraktion überlagert, die die Lehrerin auf sie ausübt. Das ist die neue Motivation, die Zelda vorantreibt, die Reaktionen in ihr hervorruft, um der Lehrerin nah zu sein. Möglicherweise folgt sie ihr auf dem Schulfest überall hin, bis die Lehrerin sie zurückweist.
Was für diese Szene dann die letzte Reaktion ist, aber die Motivation für die nächste Szene erzeugt, nämlich: Wie kann Zelda die Lehrerin sehen, auch wenn das Schulfest vorbei ist?
So hangelt sich die Geschichte von Schritt zu Schritt, einmal Motivation, dann wieder Reaktion, aus der die nächste Motivation entsteht, die zwangsläufig zu einer weiteren Reaktion führt.
Für Bauchschreiberinnen kann so, ohne sich viele Gedanken über einen Plot zu machen, eine lange, spannende, mit immer wieder neuen Überraschungen und Wendungen versehene Geschichte entstehen. Die Technik kann für Kopfschreiberinnen aber auch erst einmal zu einem logischen Plot führen, aus dem später eine Geschichte wird.
Einfach mal ausprobieren. Es lohnt sich. :)