Wir haben ja nun schon gesagt, dass sich eine Szene aus der vorherigen ergeben muss. Sie muss sich aber nicht nur aus der Szene ergeben, sie muss auch einen Spannungsbogen haben. Genauso wie das ganze Buch einen Spannungsbogen haben muss.

Als ich „Taxi nach Paris“ schrieb, merkte ich, dass ich ganz automatisch, aus dem Gefühl heraus, einer Szene, die sehr aufregend war, immer eine Szene folgen ließ, die weniger aufregend war. Zur Beruhigung und Erholung sozusagen. Eine sehr aufregende Szene, die vielleicht auch noch mit einer Katastrophe geendet hatte, konnte nicht so stehen bleiben. Die nächste Szene durfte dann nicht genauso ablaufen, das war mir intuitiv klar.

Diese Struktur bestimmt den Spannungsbogen des Buches. Es ist ein ständiges Auf und Ab, wobei sich die Situation immer mehr zuspitzt.

Jede einzelne Szene trägt dazu bei. Es gibt keine Szenen, die nicht dazu beitragen. Wenn wir den Eindruck haben, eine Szene trägt nichts zum Spannungsbogen bei, muss sie aus dem Buch gestrichen werden. Meistens sind solche Szenen Hintergrundinformationen, eventuell Rückblenden oder auch Erklärungen, Beschreibungen.

Wir akzeptieren nur Szenen, die die Geschichte vorantreiben, auf die eine oder andere Art. Das muss immer das oberste Kriterium sein. Eine Szene, bei der die Leserin am Ende genauso viel weiß wie am Anfang, ist wertlos.

Aber wie wir alle schon festgestellt haben, ist es gar nicht so einfach, solche guten Szenen zu schreiben. Eine Voraussetzung dafür ist, dass wir wissen, was wir in der Szene schreiben wollen. Da kommt wieder das zum Tragen, was ich schon im ersten Teil dieser Serie gesagt habe: Die Szene in einem einzigen Satz zusammenfassen, bevor man beginnt zu schreiben.

Wenn man das nicht getan hat, die Szene schon geschrieben ist: die Szene im Nachhinein in einem Satz zusammenfassen. Wenn man das nicht hinkriegt, stimmt etwas mit der Szene nicht. Eventuell ist es eine Szene mit Hintergrundinformationen, die die Leserin gar nicht wissen muss. Eventuell ist es eine Szene, die wir nur geschrieben haben, um in Beschreibungen zu schwelgen. Eventuell ist es eine Szene, die wir nur geschrieben haben, weil wir unsere Heldin so bezaubernd finden. ;)

Was auch immer es ist: Wenn die Szene die Geschichte nicht vorantreibt, fliegt sie raus. Wenn wir ein wirklich gutes Buch schreiben wollen, müssen wir da gnadenlos sein. Szenen, die nur den Status Quo zementieren, haben nichts in unserem Buch zu suchen.

Wie gesagt hat eine Szene eine Struktur im Kleinen wie das Buch eine Struktur im Großen hat. Beides muss zusammenpassen. Dazu sollte jede Szene auf den Punkt kommen und nicht um den heißen Brei herumreden. Jede Szene muss ein Ziel haben, auf das hin wir sie schreiben.

Die Abfolge zwischen aufregender und weniger aufregender Szene ist schon einmal ein guter Rahmen. Es gehören also immer zwei Szenen zusammen.

Aufregung entsteht nur durch Emotionalität. Eine Beschreibung ist nicht aufregend. Auch Rückblenden sind meistens nicht aufregend. Ebenso sind Dialoge nicht aufregend, in denen nichts passiert. In einer aufregenden Szene sollten also keine Beschreibungen vorhanden sein, Rückblenden sind ebenfalls eher kontraproduktiv, und die Dialoge sollten messerscharf sitzen und die Emotionen hochpeitschen.

Beruhigung empfinden wir dann, wenn nicht Aktion, sondern Reaktion unser Handeln bestimmt. Wenn wir dasitzen und nachdenken. Wenn uns niemand stört. Wenn wir nicht reden müssen. Eine weniger aufregende Szene kann auch einmal ein wenig Beschreibung vertragen, man kann sich an Vergangenes erinnern, und Dialog ist nicht unbedingt vonnöten.

Wir haben nun dieses Muster: Aufregung -> Beruhigung -> Aufregung -> Beruhigung usw. Das ist das grobe Muster zweier aufeinander folgender Szenen, aber innerhalb der Szene gibt es noch ein feineres Muster.

Was muss in einer aufregenden Szene passieren, und wodurch wird der Ablauf der Szene bestimmt?

  • Der erste Schritt ist, sich zu überlegen, welches Ziel die Protagonistin in dieser Szene hat. Was sie haben will, was sie vermeiden will, was sie ändern will. Eine aufregende Szene bedeutet, die Protagonistin ist aktiv, sie will etwas, sie tut etwas.
  • Das wäre alles so einfach, wenn der zweite Schritt nicht wäre, denn der heißt Konflikt. Nichts Neues, denn Konflikt trägt die ganze Geschichte. Eine Geschichte ohne Konflikt ist langweilig. Der große Konflikt im großen Spannungsbogen des gesamten Buches spiegelt sich in aktiven Szenen, den aufregenden Szenen, wider. Jede einzelne dieser Szenen muss die Protagonistin vor einen Konflikt stellen, der es ihr verwehrt, ihr Ziel zu erreichen.
  • Der Schluss, der dritte Schritt in der Szene ist das, was ich oben schon erwähnte: die Katastrophe, mit der die Szene endet. Die Protagonistin hat gekämpft, sie hat versucht, den Konflikt auszuräumen, aber sie hat es nicht geschafft. Es wird alles nur noch schlimmer.

Wir sehen also, das Auf bedeutet nicht unbedingt ein glückliches Ansteigen, es bezieht sich nur auf das Ansteigen der Spannung. Wir stehen am Ende einer solchen Szene vor einem Trümmerhaufen, die Leserin beißt sich die Nägel ab, weil alles so ausweglos erscheint.

Was muss nun in der nächsten Szene passieren, der beruhigenden Szene?

Wie ich schon sagte, ist diese Szene eine Reaktion auf die aufregende Szene. Mal angenommen, die vorherige Szene hat so geendet, dass die Angebetete der Protagonistin gesagt hat, der Sex war zwar nett, aber sie will keine Beziehung. Sie hat vielleicht sogar gesagt, dass sie die Protagonistin, die verliebt in sie ist, überhaupt nicht mehr wiedersehen will.

Nach dieser großen Aufregung sitzt die Protagonistin nun also da und starrt die Tür an, die sich hinter ihrer Angebeteten geschlossen hat, als wäre es für immer. Die Protagonistin will das nicht akzeptieren, aber was kann sie tun? Sie denkt vielleicht erst einmal nach.

  • Das Nachdenken ist eine Reaktion auf die Katastrophe am Ende der aufregenden Szene, und das ist der erste Schritt in der weniger aufregenden Folgeszene. Wie kann die Protagonistin auf das Geschehene reagieren?
    Sie erwägt mehrere Möglichkeiten. Sie könnte hinterherlaufen, anrufen, ihre Angebetete mit einer täglichen Blumenladung erschlagen, bis sie endlich nachgibt, sie entführen und in einer Hütte in einem dunklen Wald gefangenhalten, bis sie ihre Meinung ändert. Sie könnte sich selbst erschießen.
  • Der Möglichkeiten sind viele, und das ist die Klemme, der zweite Schritt in der Folgeszene. Alles, was sie sieht, sind Möglichkeiten, aber nicht unbedingt Lösungen. Eventuell sind die Möglichkeiten sogar kontraproduktiv und von ihrer momentanen emotionalen Aufgewühltheit bestimmt, nicht von logischem Denken. Oder sogar logische Überlegungen führen zu keinem Ergebnis.
  • Dennoch muss sie am Ende dieser Szene eine Entscheidung treffen. Denn nur, wenn sie eine Entscheidung trifft, kann es in der nächsten Szene wieder mit Aufregung weitergehen. Die Aufregung wird von der Entscheidung am Ende der ruhigeren Szene bestimmt. Und sie zeigt, dass die Protagonistin nicht aufgibt, dass sie sich nicht unterkriegen lässt. Denn Leute, die sich unterkriegen lassen, sind nicht als Protagonisten geeignet.

Innerhalb dieser jeweils drei Teile einer jeden Szene muss sich noch einmal ein Auf und Ab abspielen, das ist die noch feinere Struktur, die die drei Schritte trägt, die wiederum die Szene tragen, die wiederum die nächste Szene anstößt, die wiederum ihre eigene Struktur mit den drei Schritten und der feineren Struktur enthält.

Wichtig ist, dass das Ende der einen Szene eine Katastrophe darstellt (es kann auch eine Katastrophe sein, die man jetzt noch nicht sieht, vielleicht sogar ein Ende, das man für etwas Positives hält) und das Ende der folgenden Szene die Protagonistin zu einer Entscheidung führt, die die Geschichte vorantreibt.

Nur eine Protagonistin, die Entscheidungen fällt, kann die Geschichte vorantreiben. Unentschlossene Protagonistinnen, die keine Entscheidungen fällen können, können niemals das Zentrum einer Geschichte sein.

Es ließe sich noch mehr in die Tiefe gehen bei der Anleitung zum Schreiben von Szenen, aber ich denke, das ist erst einmal lang genug.

Wenn Ihr schon Szenen geschrieben habt, klopft sie daraufhin ab, ob sie sich abwechseln zwischen Aufregung und Beruhigung und ob sie dem oben skizzierten Muster entsprechen. Entsprechen sie dem Muster: perfekt, entsprechen sie nicht dem Muster, ist eine Analyse angesagt, warum sie nicht dem Muster entsprechen.

Und dann muss eine Entscheidung gefällt werden: Lässt sich die Szene noch retten oder fliegt sie raus?

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Hier geht es weiter zu Teil 2: Szenen schreiben II - Die kleinste Einheit