Das ist ein Zitat aus einem Buch, das sich mit »Short Story – Die amerikanische Kunst Geschichten zu erzählen« beschäftigt.

Dasselbe gilt – würde ich sagen – auch für Gedichte. In einem Roman kann man sich für eine Weile vor sich selbst verstecken, man kann Landschaften beschreiben oder Leute, die eine nichts angehen, aber in einem Gedicht oder einer Kurzgeschichte kann man sich nicht verstecken, da legt man seine Seele offen auf den Tisch.

Emotionen können sich in einem Roman über lange Zeit entwickeln, viele, viele Seiten lang, in einer Kurzgeschichte muß die ganze Geschichte schon in diesen paar Seiten erzählt sein, also kann man sich nicht mit langen Beschreibungen oder versunkenen Betrachtungen aufhalten. Es muß gleich zur Sache gehen.

Das ist der größte Unterschied zwischen Roman und Kurzgeschichte: In eine Kurzgeschichte springt man an einem entscheidenden Punkt hinein, möglichst kurz vor dem Ende. Deshalb kann aus einer Familiensaga, die mit dem Eintreffen der Familie vor Hunderten von Jahren in Amerika beginnt, niemals eine Kurzgeschichte werden. Die Kurzgeschichte muß sich mit einem einzigen Ereignis befassen, beispielsweise wie der Sohn der Familie, die Hoffnung aller, direkt nach dem Eintreffen in Amerika von betrunkenen Soldaten erschossen wird.

Das ist geradezu Stoff für ein Melodram. Der Vater ist schon lange tot, die letzte Hoffnung der Familie war Amerika, der Sohn schien die einzige Garantie für die Mutter, die nicht weiß, wovon sie ihre drei Kinder ernähren soll. Nun ist der Sohn tot. Was geschieht weiter?

Ja, da sind ja noch die beiden kleinen Mädchen. Gut, eine ist vielleicht nicht mehr so klein, aber wie das früher so war: Mädchen oder Frauen wurden nicht als wichtig erachtet, nur die Männer zählten. Die ältere Tochter hilft der Mutter im Haushalt, hat sich schon ganz mit der Situation abgefunden, nicht so wichtig zu sein, obwohl sie sich von morgens bis abends krummarbeitet.

Aber die jüngere . . . die jüngere tut das nicht. Sie ist ein Wildfang (eventuell lesbisch?) und gerät immer wieder in gefährliche Situationen. Sie fürchtet sich vor nichts und niemandem. Als ihr Bruder erschossen wird, ist sie zuerst einmal vernichtet, wie ihre Mutter und ihre Schwester, aber sie gibt nicht auf. Sie hat ihren Bruder gemocht, heiß und innig geliebt, aber sie hat sich immer eher als sein kleiner Bruder denn als seine kleine Schwester betrachtet. Sie wollte sein wie er.

Das ist Emotion pur, kein Platz für Feiglinge, denn die kleine Emma ist auch keiner. Man kann auch einen Feigling zum Held oder zur Heldin einer Geschichte machen, aber mutige Menschen sind interessanter, vor allem, wenn sie sich mit einer neuen Situation auseinandersetzen müssen.

Emma ist phantasiebegabt, sie hat immer schon gern Geschichten erzählt und sich auch erzählen lassen, dadurch ist sie reifer als andere Kinder ihres Alters. Sie kann sich gut in andere hineinversetzen und ihre Gedanken erraten. Das nutzt sie nun, um ihre Familie, den Rest ihrer Familie, nämlich Schwester und Mutter, vor dem Verhungern und anderen Bedrohungen zu bewahren.

Für eine Kurzgeschichte müßten wir uns nun ein Ereignis ausdenken, das Emma und ihre Begabungen beschreibt, das genau illustriert, wie sie ist und wie sie in ihrem zukünftigen Leben sein wird. Wir können nicht ihre ganze Lebensgeschichte erzählen (können wir, aber dann wird es ein Roman), sondern wir müssen uns auf etwas Bezeichnendes beschränken, das den Rest ihres Lebens schon vorwegnimmt.

Da wäre beispielsweise die Nahrungssuche. Ja, ich verwende mit Absicht diese Bezeichnung, wie man sie eigentlich nur für Tiere verwendet, aber in diesem Falle trifft sie zu. Emma und ihre Familie haben kein Geld, sie können sich nichts kaufen, denn die Preise für die gerade Angekommenen sind horrend hoch. Emmas Mutter und ihre Schwester erhalten ständig Angebote, sich zu prostituieren und damit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Bislang haben sie dieser Versuchung aus moralischen Gründen widerstanden, aber der Hunger zeichnet bereits ihre Gesichter, lange werden sie nicht mehr durchhalten können.

Emma sieht aus wie ein Junge und erhält dadurch solche Angebote nicht, aber sie muß für ihre Familie sorgen. Ihre Schwester und ihre Mutter, angepaßt an die Frauenrolle, wie sie sind, können das nicht. Es gibt genügend Einwanderinnen, die sich für ein Butterbrot verkaufen, entweder ihre Arbeitskraft oder gleich ihren Körper, da ist es hoffnungslos, auf Arbeit zu hoffen, die das Überleben der Familie sichern kann.

Und nun denken Sie sich ein Ereignis aus, das diesem Zustand ein Ende setzt. Emma rettet ihre Familie mit Phantasie und Witz. Seien Sie kein emotionaler Feigling. Tun Sie es.

Die Geschichte sollte nicht länger als 3000 Wörter sein.