Die das Leben schrieb. Diese Geschichte wurde vor ein paar Tagen auf Imgur veröffentlicht. Ursprünglich stammt sie von Twitter. Wer sie im englischen Original lesen will, hier ist der Link: Die Geschichte von Tom und Tim

Da es eine sehr lange Geschichte ist, habe ich sie mal ins Deutsche übersetzt.

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Von Electra Rhodes

Da die U-Bahn streikte, trabte ich am Freitag zu Fuß nach Paddington. Als ich an dem alten schmiedeeisernen Schild des Pizza Express vorbeikam, wurde ich an ein Ereignis von vor über 30 Jahren erinnert, als ich in ein Drama verwickelt wurde, das zu einer Scheidung, zwei Ehen und vielen veränderten Leben führte.
Es begann mit einem Herzinfarkt. Wie am Freitag schlenderte ich die Marylebone Road entlang.
Zwei Männer kommen mir entgegen, einer etwas älter als der andere, gut gekleidet, lachend, und ihre Handrücken berühren sich gelegentlich, während sie nebeneinander hergehen. Es ist 13 Uhr und ich nehme an, dass sie gerade zu Mittag gegessen haben oder auf dem Weg dorthin sind.
Der ältere Mann bleibt plötzlich mitten auf dem Bürgersteig stehen und umklammert seinen Oberarm. Dann fällt er zu Boden. Der andere Mann schreit auf, ich vielleicht auch. Ich habe gerade einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Ich werfe meine Jacke auf den Boden, knie mich hin, fische den Mundschutz heraus, den wir bekommen haben, und beginne mit der Wiederbelebung.
Ich mache weiter mit dem Mann mit dem Herzinfarkt (er heißt übrigens Tom). Sein Freund Tim jammert an unserer Seite. In der Ferne glaube ich, Sirenen zu hören, aber vielleicht ist es auch nur mein eigenes Herz, das schneller schlägt, als es sein sollte. Schaulustige trösten Tim, jemand ruft tatsächlich einen Krankenwagen.
Es fühlt sich an wie 6 Jahre, aber nur 10 Minuten später stößt mich ein Sanitäter zur Seite. Gute Arbeit, sagt er.
Ich kämpfe mich auf die Beine. Tim und ich klammern uns aneinander, während wir abwarten, was auf uns zukommt. Tom wird in den Krankenwagen verladen und Gute-Arbeit-Jeff sagt uns, in welches Krankenhaus sie fahren.
Tim und ich werden am Straßenrand zurückgelassen. Die Schaulustigen zerstreuen sich, und ich frage Tim, ob er möchte, dass ich mit ins Krankenhaus komme. Lieber nicht, sagt er, man wird dort seine Frau anrufen.
Tim ist nicht der Liebhaber, für den ich ihn gehalten habe. Er ist Toms Assistent bei einer schicken Handelsbank. Oh, sage ich. Ja, antwortet er.
Wir tauschen Adressen aus. Ich, weil ich wissen will, ob Tom es schafft, und Tim, weil er mein bestes Stofftaschentuch, von dem ich vergessen hatte, dass ich es ihm gegeben hatte, vollgeschmiert hat und es gerne zurückgeben würde. Dann halten wir inne. An der Straßenecke, inmitten aller möglichen Kreuzungen.
Vielleicht solltest du es ihm sagen, sage ich. Vielleicht, antwortet Tim. Keiner von uns  denkt länger darüber nach, was das genau bedeuten könnte.
Drei Wochen später kommt ein Taschentuch mit der Post. Gewaschen und gebügelt. Mit einem kleinen Zettel drin.

Es geht ihm gut. Ich habe es ihm gesagt. Wir werden sehen. Xx T.

In Ordnung, denke ich. Wir werden sehen.
Einen Monat später bekomme ich einen Brief mit der Post. Er ist von Sheila, Toms Frau, und sie ist stinksauer. Zu Recht.
Sie hat meine Adresse von Biff, der sie von Tom hat, der sie von Tim hat. Der sie, wenn ihr euch erinnert, von mir bekommen hat.
Moment, sagt ihr. Wer zum Teufel ist Biff?
Er war Trauzeuge bei Sheilas und Toms Hochzeit. Das ist lange her. Ich finde das drei Wochen später heraus, nachdem ein Schwall von Post in beide Richtungen gegangen ist.
Also ... Tim hat Tom gesagt, dass er ihn liebt. Tom hat Sheila gesagt, dass er Tim lieben könnte (Entschuldigung und so). Sheila hat sich bei jedem, der ihr zuhörte, ausgeweint.
Und jetzt hat Biff mir geschrieben. Er liebt Sheila, ob er ihr das sagen soll? Ich frage ihn, ob es einen Grund gibt, warum er es nicht tun sollte. Ich warte. Und warte.
Spulen wir ein Jahr vor. Abgesehen von der Weihnachtskarte, einem Strauß Geburtstagsblumen und einer Postkarte an meinen Vater (ich weiß auch nicht, so was tut man eben) ist es still geworden. Ich denke nicht mehr daran, außer wenn ich die Marylebone Road entlanglaufe oder mir die Nase putze.
Dann taucht eine Hochzeitseinladung auf der Matte auf. Sheila und Biff.
Die Hochzeit ist schick und ich kaufe einen neuen Hut (dunkelblauer Samt, danke der Nachfrage). Er passt zu meinen besten Schuhen. Tim und Tom übergeben Sheila am Altar an Biff und bezahlen den Champagner und die Blumen! Das ist definitiv eine willkommenere Überraschung als die letzte, die sie ihr bereitet haben. Biff sagt: Hey, der Trauzeuge hat endlich mal die Braut bekommen.
Spulen wir noch ein paar Jahre weiter, bis die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt wird, und dann liegt eine weitere Einladung auf meinem Kaminsims. Tim und Tom.
Es ist ein glorreicher Tag. Ich trage denselben Hut, aber ich habe neue Schuhe gekauft. Biff und Sheila finanzieren diesmal die Getränke und die Blumen. Ein schwuler Männerchor taucht auf und singt.
Weitere Jahre vergehen. Das Taschentuch wird immer zerfledderter, also hänge ich es in einem Rahmen an die Wand. Gelegentlich tauchen noch Postkarten auf. Dann tritt eine Flaute ein.
Ich denke aber immer noch an sie, wenn ich an dem schmiedeeisernen Schild vorbeigehe. Ein oder zwei Mal im Jahr. Oder wenn mich jemand nach dem Rahmen fragt.
Kurze Zeit später kommt eine schwarz umrandete Karte mit der Post. Toms Herz hat nun doch endgültig aufgehört zu schlagen.
Tim sagt: Wir haben fast 30 Jahre miteinander geschenkt bekommen, weil du in einem Erste-Hilfe-Kurs am Arbeitsplatz, zu dem dich dein Chef gezwungen hat, Wiederbelebungsmaßnahmen gelernt hast.
Danke, El, schreibt er, dass du uns allen das Leben gerettet hast.

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Eine wundervolle, herzerwärmende Geschichte. Da soll noch mal jemand sagen, es gäbe keine guten Ideen mehr, die das Leben schreibt. 🙂 So oft wird man als Schriftstellerin gefragt: Woher hast du deine vielen Ideen? Wie geht das? Wo findest du sie? Und wie man hier sieht, ist die Antwort zuzeiten ganz einfach. Manchmal findet man sie auf der Straße. Buchstäblich. 😎

Aus so einer Geschichte kann man einen ganzen Roman machen. Wenn man es kann. 😉 Ein bisschen Ahnung vom schriftstellerischen Handwerk würde dabei selbstverständlich nicht schaden. Denn ein paar zehntausend Wörter sind doch etwas anderes als ein paar hundert wie hier. Da muss man sich noch einiges einfallen lassen, den Spannungsbogen aufbauen, die Figuren entwickeln und dem Ganzen einen Rahmen geben. Nur dann wird ein Buch daraus, das die Leserinnen von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.

 

 
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