Manchmal ist ein Buch zu schreiben wie ein Kind zu kriegen. Der Anfang ist einfach, vielleicht sogar lustvoll. Aber zum Ende hin wird es immer schwerer. Bis es dann richtig unangenehm wird, bevor die Tat endgültig vollbracht ist und das Buch endlich geboren mit dem Wort ENDE darunter vor einem liegt.
So geht es mir eigentlich mit jedem Buch. Anfänge fallen mir leicht, die schreibe ich einfach so herunter. Selbst ohne eine Geschichte zu haben, kann ich das tun. Eine schöne Anfangsszene steht für sich selbst, ist fast wie ein Buch im Kleinen.
Wenn sich dann die Charaktere entwickeln, wenn die Geschichte sich entwickelt, ist es richtig spannend. Ich freue mich auf jeden neuen Tag, an dem ich schreiben kann und sehen kann, wie es weitergeht. An dem ich so viel mehr aus den Figuren herausholen kann, als ich am Anfang auch nur geahnt hatte.
Dann endlich weiß ich es. Ich kenne die Figuren, ich kenne einen Teil der Geschichte. Bis auf das Ende. Das kenne ich meistens nicht. Das ist für mich das Schwierigste an einem Buch. Und ich hasse es, Enden zu schreiben. Sie sind wie ein Damoklesschwert, das über mir hängt. Am liebsten möchte ich, dass es nie herunterfällt, aber es muss ja. Irgendwann muss die Geschichte zu einem Ende kommen.
Es sei denn, es wäre eine Soap. Und ich schreibe keine Soaps. Obwohl das eigentlich empfehlenswert wäre, da ich Schlüsse so sehr hasse. So ginge es immer weiter, und ich könnte mich endlos davor drücken, das Wort Ende unter ein Werk zu schreiben.
Leider finde ich immer dieselben Figuren dann auf die Dauer jedoch langweilig. Ich möchte neue Figuren erfinden, nicht immer dieselben Figuren etwas Neues oder anderes tun lassen.
Obwohl ich festgestellt habe, dass viele Leserinnen das lieben. Ich selbst in gewisser Weise auch. Als Leserin.
Als Leserin liebe ich die Vertrautheit mit den Figuren. Dass ich weiß, wie sie sind und wie sie sich verhalten, wie sie denken, was ihre Maßstäbe sind. Deshalb verstehe ich die Leserinnen sehr gut, die sich das auch von mir als Autorin wünschen.
Aber als Schriftstellerin halte ich das nicht lange durch. Ich mag den Punkt in einem Buch, wenn ich plötzlich weiß, wie meine Figuren sind. Was sie wollen und was sie nicht wollen. Was sie tun würden und was sie niemals tun würden. Wo ihre Sehnsüchte und ihre Grenzen sind.
Bis dahin ist jedes Buch voller Spannung und Erwartung. Doch sobald ich weiß, wie meine Figuren sind, wie sie ticken, geht es nur noch bergab mit der Spannung. Für mich als Autorin, nicht unbedingt für die Leserin.
Es gibt SchriftstellerInnen, für die ist es genau umgekehrt. Sie erforschen ihre Figuren zuerst, schreiben eine Kurzfassung der Geschichte, den Plot, schreiben eine Kurzfassung für jedes Kapitel, jede Szene in nur ein paar Sätzen. Erst dann fangen sie an, das Buch zu schreiben.
Das ist eigentlich die Hauptarbeit, und danach geht das Herunterschreiben ziemlich schnell. Einige dieser Kolleginnen und Kollegen berichten, dass sie ein Buch dann in vierzehn Tagen schreiben. Nachdem sie all diese Vorarbeit geleistet haben. Das Schreiben des Buches ist in so einem Fall der kürzeste Teil. Auch der Teil, der am wenigsten Anstrengung erfordert. Nur noch Sitzfleisch.
Manchmal beneide ich diese Kolleginnen. Ich glaube, viele Groschenromanautorinnen sind so. Deshalb können sie in ihrem Leben Hunderte von Büchern schreiben. Alle nach demselben Schema, das dann jeweils mit einem leicht abgewandelten Plot gefüllt wird.
Viele Krimiautoren machen das auch. Georges Simenon, der mit seinen Maigret-Romanen berühmt geworden ist, war beispielsweise so. Er hat ein Buch in vierzehn Tagen heruntergeschrieben, und davon dann Dutzende in einem Jahr.
Das schaffe ich leider nicht. Ich schreibe sehr viel, aber da ich mir jede Geschichte neu ausdenke, jedes Mal die Figuren neu erfinde und niemals dieselbe Geschichte zweimal schreiben möchte, nur mit anderen Namen der Figuren und leichten Veränderungen des Plots, habe ich zwar eine Menge Bücher geschrieben, werde aber trotzdem nie an die Zahl dieser Massenproduktionsautoren herankommen.
Wahrscheinlich könnte ich mehr Bücher schreiben, wenn mir die Schlüsse nicht so schwer fallen würden. Bis zu 75 oder 80 Prozent eines Buches könnte ich jedes Buch wohl in vierzehn Tagen schreiben, vielleicht sogar noch schneller. Wenn ich es dann liegenlassen und an jemanden übergeben könnte, der mir jeweils das Ende schreibt …
Das geht leider nicht. Und so verbringe ich oft mehr Zeit mit dem Ende eines Buches, den letzten vielleicht zehn oder zwanzig Prozent, als mit dem ganzen Buch davor.
Es ist ein bisschen wie diese 80:20-Regel. Man braucht zwanzig Prozent Aufwand für die ersten achtzig Prozent Ergebnis. Und dann braucht man achtzig Prozent Aufwand für die letzten zwanzig Prozent Ergebnis. Um das Ganze auf hundert Prozent zu bringen.
Weshalb oft geraten wird, es dann bei den achtzig Prozent zu belassen, weil der überproportionale Aufwand für die letzten zwanzig Prozent den Aufwand nicht rechtfertigt.
Aber was bedeutet das für ein Buch? Dass es stets ohne Ende bleibt? Das geht leider nicht. Da würden wohl alle Leserinnen auf die Barrikaden gehen. Und das zu recht.
Und so muss ich mich mit den letzten zehn, fünfzehn, zwanzig Prozent eines Buches abquälen, um zu einem schönen, romantischen, erfüllenden Ende zu kommen. Ob ich will oder nicht.
Es gibt ja Autoren, die lassen ihre Geschichten einfach offen.
Vielleicht sollte ich das mal versuchen.