Ich war nie ein großer Fan von Sherlock Holmes. Er war mir immer zu kalt, zu faktenorientiert, zu wenig gefühlsbetont.
Sein Kumpel Dr. Watson war da schon von Anfang an viel sympathischer. Er hatte wenigstens ein paar Gefühle. Und er konnte schreiben. Was ihn mir gleich noch sympathischer machte.
Die gemeinsame Haushälterin der beiden Junggesellen, Mrs. Hudson, blieb meistens im Hintergrund. Sie erfüllte die Aufgaben, die man im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als Conan Doyle die Holmes-Geschichten schrieb, als naturgegeben für eine Frau betrachtete: Putzen, Kochen, den Männern das Leben so angenehm wie möglich gestalten.
Eigentlich ist Mrs. Hudson aber doch eine ziemlich interessante Figur.

Zuerst muss sie einmal verheiratet gewesen sein, denn sonst trüge sie nicht die Anrede Mrs. Damals auf keinen Fall. Da gab es noch kein ›Ms.‹
Somit muss es einmal einen Mr. Hudson gegeben haben. Von dem aber nie die Rede ist. Also ist er vermutlich schon lange tot. Denn Scheidung war damals noch nicht so verbreitet. Auch wenn es die Möglichkeit gab.
Und dann übersehen die meisten wahrscheinlich, dass Mrs. Hudson nicht einfach eine Haushälterin ist. Sie ist die Besitzerin des Hauses. Holmes und Watson sind nur Mieter.
Eine Hausbesitzerin, die sich auch noch zwei sehr exzentrische Mieter ins Haus holt (nun ja, einen exzentrischen Mieter, Holmes) und sie über Jahre, ja Jahrzehnte nicht hinauswirft. Trotz allem, was vor allem Holmes anstellt, wie beispielsweise mit seinem Revolver Löcher in die Wand zu schießen.
Wobei Mrs. Hudson unten im Haus wohnt und das alles mitbekommt. Sie ist ja keine abwesende Vermieterin.
Somit muss Mrs. Hudson schon eine sehr tolerante und liebenswerte Frau sein. Eine Frau, die Verständnis hat und offenbar auch ein gutes Nervenkostüm. Und die außerdem nicht dumm ist, denn als Hausbesitzerin, die Miete kassiert, ist sie ja auch eine Art Geschäftsfrau.
Watson war mir immer sympathischer als Holmes, und Mrs. Hudson scheint auch eine sehr sympathische Frau zu sein. Also warum nicht aus den Beiden ein neues Ermittlerpaar machen?
Ja, wenn Watson eine Frau wäre, wäre es noch besser. Aber das gab es schon mal in dieser Fernsehserie. Und deshalb würde ich, wenn ich aus Dr. Watson eine Frau machen würde, immer Lucy Liu vor mir sehen. Also lassen wir das.
Und wir lassen Watson weiter erzählen, weil er das immer schon getan hat. Er hat schon Übung darin.
---

»Mrs. Hudson?« Ich hob den Blick und setzte die Brille ab, ohne die ich seit einiger Zeit weder lesen noch schreiben konnte.

Unsere Haushälterin, die gerade an meine Tür geklopft hatte, öffnete die Tür nun und trat ein. Sie sah etwas ratlos aus.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte ich.

Im Allgemeinen war Mrs. Hudson nicht auf den Mund gefallen, aber im Moment schien es so, als ob sie den Zugang dazu verloren hätte.

Endlich räusperte sie sich. »Vielleicht«, sagte sie.

Ich hob die Augenbrauen und sah sie an. Viel mehr konnte ich nicht tun. Denn ich wusste nicht im Entferntesten, worum es hier ging.

Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sie erneut ansetzte. »Es geht um meine Schwester.« Nur zögernd fügten sich die Silben zusammen.

Ich lächelte. »Ihre Schwester? Werden Sie wieder für ein paar Tage zu ihr fahren? Sollen wir uns dann selbst versorgen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich …« Unbehaglich räusperte sie sich. »Wäre es vielleicht möglich, dass Sie mitkommen?«

Das überraschte mich dann doch. »Mitkommen? Zu Ihrer Schwester? Ich?«

Für einen Augenblick schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Mrs. Hudson sich den Damen angeschlossen haben könnte, die mich ständig verkuppeln wollten, seit meine Gattin gestorben war. Doch dann sah ich, dass dieses Funkeln, das ein solches Ansinnen meist begleitete, in ihren Augen fehlte.

»Ja«, murmelte sie und senkte den Kopf. »Aber wenn Sie keine Zeit haben …« Sie drehte sich um und wollte offensichtlich das Zimmer wieder verlassen.

»Aber nein!« Ich sprang auf und ging zu ihr hinüber, legte eine Hand auf ihre Schulter. »Natürlich habe ich Zeit. Ich bin schließlich in Rente.« Ich lachte. »Auch wenn Holmes das meistens nicht wahrnimmt.«

»Ja, Mr. Holmes …« Sie zögerte erneut. »Wissen Sie …«, sie drehte sich wieder zu mir um, »es geht nämlich um ein … Rätsel.«

»Ein Rätsel?« Das sagte mir jetzt gar nichts.

Nickend fuhr sie fort: »Meine Schwester hat schon einige Male versucht, die Polizei zu holen, aber sie kommen nicht mehr.«

Auch das klärte mich in keiner Weise auf, deshalb übte ich leichten Druck auf ihre Schulter aus und führte sie zu einem der beiden Sessel, die in meinem Zimmer standen. »Ich glaube, Sie setzen sich besser und erzählen mir die ganze Geschichte.«

»Zuerst sollte ich noch einen Tee –« Sie wandte sich trotz meines Druckes an ihrer Schulter mehr zur Tür als zum Sessel.

»Später gern«, sagte ich und drückte sie nun ganz entschlossen auf den Sessel hinunter. Ein Verhalten, das mir bei einer Dame normalerweise widerstrebt. Doch hier schien es mir angebracht. »Aber jetzt will ich erst einmal wissen, worum es geht.«

Sie saß kurz da und drehte das Taschentuch, das sie schon beim Eintritt in der Hand gehalten hatte, jetzt zwischen ihren Fingern. »Sie werden sagen, es ist albern.«

»Wie wäre es, wenn Sie dieses Urteil mir überlassen?«, erwiderte ich lächelnd. »Nachdem Sie mir die Geschichte erzählt haben?«

Endlich schien sie sich entschlossen zu haben. »Meine Schwester denkt, es ist ein Geist.« Sie hob den Blick und sah mich an. »Aber Geister gibt es nicht.«

Dem stimmte ich ganz automatisch zu. Als Arzt glaubt man nicht an Geister, nur an Krankheiten. »Nein«, sprach ich es dann auch noch aus. »Geister gibt es nicht.« Ich überlegte kurz und ließ mich in dem Sessel ihr gegenüber nieder. »Ihre Schwester wird also … belästigt?«