Je älter man wird, desto mehr merkt man an solchen Tagen, wie die Zeit vergeht. Ein ganzes Jahr dahin, und manchmal weiß man nicht einmal so ganz genau, wie das überhaupt gekommen ist.

Jetzt kurz vor Weihnachten, bevor er in Urlaub ging, war ich noch einmal bei meinem Chiropraktiker (das mache ich regelmäßig alle paar Wochen, denn mein Rücken ist kaputt. Ohne das könnte ich weder laufen noch sitzen), und seine Rezeptionistin meinte dann, als wir den nächsten Termin schon fürs neue Jahr machten, sie wüsste gar nicht, was sie das ganze Jahr getan hätte. Und doch ist es schon wieder um.

Dass ich nicht wüsste, was ich getan habe, kann ich nicht behaupten. Ich habe Bücher geschrieben, Klavier und Saxophon gespielt (sogar einen kleinen Auftritt mit meiner Band gehabt), kostenlosen Saxophonunterricht für arme Kinder gegeben, die sich das sonst nicht leisten könnten, und noch eine ganze Menge mehr.

Aber trotzdem ist die Zeit vergangen, und die Vergangenheit kann man nicht mehr zurückholen. Gerade, wenn ein Jahr zu Ende geht, macht man sich oft Gedanken darüber, dabei ist das natürlich jeden Tag so, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Sogar jeden Bruchteil einer Sekunde.

Sobald die Sekunde, die Minute da war, ist sie auch schon wieder vorbei. Das ist der Lauf des Lebens. Das Einzige, was wir haben, ist die Gegenwart. Obwohl wir uns gerade zum Jahreswechsel oft eher mit der Zukunft beschäftigen – und manchmal auch ein bisschen mit der Vergangenheit –, ist die Gegenwart das Einzige, was wirklich zählt. Das, was wir in jeder Sekunde, jeder Minute, jeder Stunde des Tages tun.

Warum beschäftigen wir uns dennoch lieber mit der Zukunft? Gute Vorsätze sind fast schon ein Synonym für Silvester oder für den ersten Neujahrstag. Und wir wissen alle, was daraus im Laufe des Jahres – oftmals schon im Laufe des Januars, des ersten Monats dieses Jahres – wird.

Aber die Zukunft ist immer unsicher. Und deshalb vielversprechend. Sie enthält alle unsere Hoffnungen und Wünsche, und noch hat sich nicht herausgestellt, ob etwas daraus wird. Oder auch nicht. Das kann sich erst zeigen, wenn die Zukunft sich in Gegenwart verwandelt und dann in Vergangenheit.

Das wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen lieber träumen, lieber daran denken, was sein könnte als was ist. Denn Möglichkeiten können wir uns ausmalen, ganz wie es uns gefällt. Mit den Realitäten müssen wir dann leben, oft ohne viel daran ändern zu können.

Diese Gestaltungsmöglichkeit, die die Zukunft bietet, ist das, was uns glücklich macht. Zumindest, solange wir daran glauben.

Leider wird uns dieser Glaube im Laufe des Lebens oft genommen wie der Glaube an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen. Kinder glauben an viele Dinge, weil sie noch nicht erfahren haben, dass Glaube und Hoffnung nicht unbedingt immer mit der Wirklichkeit in Einklang stehen. Mit der Machbarkeit. Deshalb ist die Kindheit oft das, woran wir uns mit Sehnsucht und in verklärter Nostalgie zurückerinnern.

Doch wir vergessen dabei, dass das eine Sehnsucht an eine Zeit ist, in der wir noch nichts wussten. Noch keine Erkenntnisse gewonnen hatten, welcher Art auch immer. In der wir keine Verantwortung für uns selbst übernehmen mussten. In der wir als ganz kleines Kind draußen spielten und später dann jeden Tag in die Schule gingen und lernten und dabei nicht daran dachten, wie wir unsere Miete bezahlen können, unser Essen, unsere Kleidung.

Diese Verantwortung macht uns zu einem Erwachsenen. Zu einem Menschen, der wählen kann. Während man als Kind von anderen abhängig ist. Von dem, was sie einem freiwillig geben.

Ja, ich weiß. Auch als Erwachsener ist man das. Es gibt keine tatsächliche Unabhängigkeit, das ist eine Illusion. Ebenso wie Demokratie oder Freiheit.

Dumme Politiker (und Politikerinnen) entscheiden über unser Schicksal, dumme Chefs (und Chefinnen) und Unternehmen. Geld regiert die Welt, und wer keins hat, muss sehen, wie er klarkommt.

Diese Entwicklung ist keine gute. Denn Geld sollte nie das Entscheidende sein. Es gibt so viel Wichtigeres auf der Welt, das sich nicht in Euro und Cent aufwiegen lässt. Glaube, Liebe und Hoffnung zum Beispiel.

Das klingt jetzt nach Bibel, und das ist es auch, und dennoch hat es nichts mit Religion zu tun. Denn jeder – ob er oder sie nun religiös ist oder nicht – glaubt an die Zukunft. Das ist eine Art von Glauben, die mit nichts anderem verbunden ist als unserer Menschlichkeit.

Tiere machen sich keine Gedanken über die Zukunft, wir Menschen schon. Wir planen und wir organisieren und wir machen Termine für das nächste Jahr. Glauben also daran, dass es das geben wird. Die Zukunft. Den Zeitpunkt. Das Ereignis.

Darin liegt unsere Kraft. Darin liegt unsere Stärke. Darin liegen unsere Möglichkeiten.

Glaube versetzt Berge ist eine bekannte Redensart. Und die hat sich nicht umsonst entwickelt. Es ist unser Glaube, der uns vorantreibt. Unser Glaube an uns selbst. Auch wenn manche meinen, an etwas anderes zu glauben. Aber wer nicht an sich selbst glaubt, kommt zu nichts.

Egal, was man behauptet, worauf sich der eigene Glaube bezieht, es ist immer nur eine Erklärung – manchmal auch eine Entschuldigung – dafür, an sich selbst glauben zu dürfen. Das tun zu können, was man gern tun möchte. Glaube ist nichts, was außerhalb von uns selbst existiert. Wenn wir sterben, stirbt unser Glaube mit uns.

Aber die Zukunft sagt uns: Wir sind noch nicht tot. Wir haben noch etwas vor uns. Deshalb freuen wir uns darauf und deshalb sind Jahreswechsel immer davon bestimmt, dass man sich vorstellt, was nächstes Jahr sein könnte. Auch wenn man sich dasselbe Jahr für Jahr vorgestellt hat und es nie eingetreten ist.

Aber diesmal . . . diesmal könnte es ja sein.

Und ja, das ist so. Es liegt nur an uns selbst, unsere Zukunft zu gestalten. Uns nicht von anderen vorschreiben zu lassen, was wir zu denken und zu tun haben.

Wenn das in der Gegenwart geschieht, sollten wir daran denken, dass diese Gegenwart bis vor einer Zehntelsekunde noch Zukunft war. Unsere vielversprechende Zukunft.

Die wir jedoch nur Wirklichkeit werden lassen können, wenn wir daran glauben. Wenn wir an uns glauben.

Die Zukunft ist ein Versprechen, das nur wir selbst in der Gegenwart einlösen können.

Tun wir es! Verändern wir das, von dem andere uns sagen, dass es unveränderlich ist. Nehmen wir unser Schicksal in die Hand und lassen nicht andere den Daumen darauf halten, die nichts davon verstehen.

Wir haben nur ein Leben. Und das ist kurz.

Doch auch ein kurzer Faden kann eine ganze Welt zusammenhalten. Unsere Welt.

Die unsere eigene Verantwortung ist.

Nur unsere.

Wenn wir diese Verantwortung übernehmen, wird die Zukunft unsere Gegenwart vergolden, sobald sie zur Gegenwart wird.

Nicht durch echtes Gold oder Geld.

Aber vielleicht – nein, ganz sicher – durch Liebe.

Frohe Weihnachten!

 

Foto von Theodor Vasile on Unsplash