Manchmal gibt es so Tage, die einfach über einen herfallen mit positiven wie mit negativen Dingen. Gestern war so ein Tag, der mit negativen Dingen über mich hergefallen ist, heute genau das Gegenteil: mit positiven. Denn heute habe ich ein Buch entdeckt, das es schon viele Jahre gibt, das mir aber irgendwie entgangen ist.

Wie viele wissen, bin ich ein großer Agatha-Christie-Fan. Sie ist mein Vorbild als Schriftstellerin, obwohl sie fast ausschließlich Krimis geschrieben hat und ich fast ausschließlich Liebesromane. Schriftstellerinnen waren beziehungsweise sind wir jedoch beide, das verbindet uns. Vom Alter her hätte sie meine Urgroßmutter sein können, aber ich finde es manchmal äußerst erstaunlich, wenn ich ihre Romane lese, wie ähnlich wir uns trotzdem in vielem sind. In dem, wie wir die Welt sehen, in erster Linie.

In zweiter Linie hat ihre Art, eine Geschichte zu erzählen, ihr Stil mich immer fasziniert, der so einfach ist und doch so tiefgründig. Die Wörter sind einfach, die Syntax ihrer Sätze ist nicht kompliziert oder hochgestochen, aber was dahinterliegt, ist weder simpel noch unkompliziert. Im Gegenteil, es ist oft mit einem Sinn versehen, der weit über die Worte hinausgeht. Mit einer geistigen Tiefe und einer Menschenkenntnis, die nichts mit akademischer Bildung zu tun haben. Sie kommen aus ihr, Agatha Christie, selbst und aus ihrer Lebenserfahrung.

Das alles spiegelt sich in ihren Romanen wider, in ihren Kurzgeschichten, in ihren Theaterstücken, die sie zur erfolgreichsten Schriftstellerin aller Zeiten gemacht haben, mit Verkaufszahlen direkt hinter Shakespeare und der Bibel. Was sie zu so einer erfolgreichen Schriftstellerin gemacht hat, ist genau diese Mischung zwischen Einfachheit und Tiefgründigkeit, oft kopiert, nie erreicht.

Auch ich dachte einmal, ich könnte eine Kriminalschriftstellerin sein wie sie, bin daran aber gescheitert. Ich bin keine Krimiautorin, auch wenn ich einige Krimis geschrieben habe. Dazu muss man geboren sein, wie mir scheint. Man muss sich für Rätsel interessieren und deren Lösung und dafür, das in den Mittelpunkt einer Geschichte zu stellen. Bei mir war immer die Liebe der Mittelpunkt.

Dennoch blieb mein Interesse an Agatha Christie stets ungebrochen, ich habe ihre Autobiografie gelesen, alle ihre Bücher dutzendfach. Praktisch alle Filme gesehen, die daraus gemacht worden sind, ob Kinofilm oder Serie. Und obwohl ich alle ihre Geschichten auswendig kenne, faszinieren sie mich immer noch und immer wieder.

Heute nun stieß ich auf YouTube auf eine Dokumentation des österreichischen Fernsehens über Agatha Christie, die ich noch nicht gesehen hatte. In dieser Dokumentation wird ein Buch erwähnt, das ich ebenfalls noch nicht kannte, nämlich ein Buch, das Agatha Christies gesammelte Notizbücher enthält. Alles, was sie sich während ihres gesamten Lebens bezüglich ihrer Geschichten notiert hat. Woraus man die ursprüngliche Idee, die Entwicklung der Geschichte, die Art, wie Agatha Christie eine Geschichte aufgebaut hat und wie sich eine veröffentlichte Geschichte zum Schluss von einer angedachten unterscheidet, entnehmen kann und vieles mehr.

Jede Schriftstellerin hat Notizbücher. Anders kann es gar nicht sein und funktioniert es auch nicht. Zu Beginn meiner Karriere – beziehungsweise als ich noch nichts veröffentlicht hatte – habe ich auch noch Notizbücher auf Papier geführt, aber mit der Einführung des Computers wurde das alles leichter und übersichtlicher, und so benutze ich schon seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten kein Papier mehr, sondern hinterlege alle meine Ideen, Entwürfe, Überlegungen im Computer. Das war zu Agatha Christies Zeiten jedoch alles noch Zukunftsmusik. Sie hat immer mit der Hand geschrieben.

In einer großen, ausladenden, fast krakligen Schrift, manchmal regelrecht unleserlich und ausgesprochen chaotisch wirkend. Was in diametralem Gegensatz zu den äußerst präzise und kompliziert entworfenen Fällen in ihren Büchern steht, bei denen jedes Detail von ihr mehrfach überdacht und auch geändert worden ist. Wie man ihren Notizbüchern entnehmen kann. Sie hat eine Geschichte nicht einfach so hingeschrieben, sie hat sie sehr intensiv ausgedacht und recherchiert. In einem Interview hat sie einmal gesagt, dass das Hinschreiben einer Geschichte der langweiligste Teil ist. Das hat sie bei den meisten ihrer Romane in 14 Tagen erledigt. Nachdem sie zuvor alles sehr genau vorbereitet und geplant hatte.

Ich arbeite anders. Bei mir entsteht eine Geschichte beim Schreiben. Das sind die beiden grundsätzlich unterschiedlichen Arten von Schriftstellern, die es gibt: diejenigen, die alles schon einmal ganz genau hinschreiben, bevor sie das endgültige Buch verfassen, und diejenigen, die – wie ich – den Plot entwickeln, während sie ihn schreiben. Keine der beiden Methoden ist besser oder schlechter, sie sind nur anders.

Sofort nachdem ich das Buch, das Agatha Christies Notizbücher enthält, entdeckt hatte, habe ich es als E-Book gekauft, und ich werde es in den nächsten Tagen mit viel Genuss lesen. Auch wenn ich selbst jetzt bereits jahrzehntelange Erfahrung als Schriftstellerin habe, kann ich von Agatha Christie vielleicht immer noch etwas lernen. 🙂

Nein, das glaube ich nicht und das ist nicht der Grund. Man macht seine eigenen Erfahrungen mit jedem Buch, das man schreibt, und auch wenn man das Handwerk lernen kann und es dazu viele Anleitungen gibt, kann man eins nicht lernen: wie eine Schriftstellerin zu denken. Dazu muss man geboren sein.

Wir Schriftstellerinnen sind weniger an uns selbst interessiert als an den Geschichten, die wir erzählen. Was in der heutigen Zeit, in der viele nur und ausschließlich an sich selbst interessiert sind, wahrscheinlich schon eine große Ausnahme ist. Wir sind Beobachterinnen, nehmen nicht oder kaum teil. Es geht uns darum, die Möglichkeiten zu erforschen, die eine Idee oder ein Ereignis eröffnen. Die menschlichen Abgründe, die sich hinter einer glatten Fassade verstecken.

Darin war Agatha Christie eine große Meisterin. Eine glatte Fassade konnte sie nie täuschen. Obwohl sie das – introvertiert, wie sie war – oftmals nicht gezeigt oder in Worte gefasst hat. Jedenfalls nicht in einem Gespräch mit dem, der diese Fassade trug. Oder überhaupt in gesprochenen Worten, mit wem auch immer. Aber möglicherweise hat dieser Charakter sich dann unter anderem Namen und etwas verändert in ihrem nächsten Buch wiedergefunden.

Ich werde jedenfalls die nächsten Tage mal abtauchen und in ihrer Gedankenwelt, in ihrer Ideenwelt, die sie in ihren Notizbüchern aufgezeichnet hat, versinken. Und das wird mir ein großes Vergnügen sein. 😎