Es ist eigentlich banal, aber wer schreiben will, muß Deutsch können. Was gehört zur deutschen Sprache? Rechtschreibung und Grammatik natürlich, aber auch der Stil. Doch was ist Stil?

Sicherlich erinnern Sie sich auch an die Bemerkung Ihres Deutschlehrers oder Ihrer Deutschlehrerin in roter Farbe am Rand eines Aufsatzes: »Stilfehler!«

In den unteren Klassen hat mich diese Bemerkung immer sehr verwirrt, denn ich wußte nicht, was sie bedeutete und wie ich es hätte besser machen sollen. Hätte ich damals schon die »Deutsche Stilkunst« von Eduard Engel besessen, hätte ich es gewußt.

Wie ich schon einmal berichtete, wurde die »Deutsche Stilkunst« zwar von Engel geschrieben, später dann jedoch von Ludwig Reiners gestohlen, der sie unter seinem eigenen Namen herausbrachte und dadurch – trotz fehlender Kompetenz – zum Stilpapst avancierte.

Eduard Engel war Jude, und deshalb wurde ihm von den Nazis jede weitere Veröffentlichung seines bis dahin sehr erfolgreichen und geschätzten Standardwerkes verboten. Ludwig Reiners, ein Anhänger der Nazis, dürfte das Buch einfach stehlen und veröffentlichen.

Mit der Zeit geriet das Original in Vergessenheit, aber vor einigen Jahren hat es glücklicherweise jemand ausgegraben. In der Originalversion gedruckt wurde es nie wieder, aber ich konnte ein Exemplar aus dem Jahre 1911 ergattern und hüte es nun wie einen Schatz.

Und ein Schatz, das ist es auch. Das Buch ist sehr dick, und es enthält alles, was man über guten Stil wissen muß. Allerdings – und darin liegt die Krux – beim Schreiben gibt es auch Dinge, die man nicht lernen kann, und darauf weist schon der erste Einleitungssatz des Buches hin:

Dies ist ein Buch der Lehre von einer Kunst, und doch ist das Wichtigste aller Kunst: das Können, unlehrbar. Keine Stilkunst vermag einen guten Schriftsteller heranzuziehen; keine aus einem schlechten einen guten zu machen.

Wie wahr, wie wahr. Und wenn man bedenkt, daß dieses Buch über einhundert Jahre alt ist, auch sehr erschreckend, denn heutzutage bildet man sich doch immer gern ein, früher war alles besser. Da gab es die unsägliche Amerikanisierung unserer Sprache noch nicht, die Leute beherrschten die deutsche Sprache noch.

Aber auch schon damals gab es dieselben Unarten wie heute, »Fremdwörtelei«, wie Engel es nennt, nur damals mit französischen Wörtern, nicht mit englischen. Und ebenso wie heute wehrten sich damals schon die, die solch eine Fremdwörtelei betrieben, dagegen sie abzulegen.

Daß ein fertiger Schriftsteller (. . .) sich durch irgendein Buch belehren lassen werde, deutsch zu schreiben, wenn er ein Menschenleben hindurch gefremdwörtelt hat; nicht mehr preziös zu schnörkeln, gelehrttuerisch anzudeuteln, unentwirrbar zu schachteln, Tiefsinn durch absichtliches Dunkel vorzugaukeln – nein, diesen Wahn hege ich nicht. Unvergleichlich wichtiger ist die Wirkung auf die heranwachsende und die gereifte Jugend.

Die schlechten alten Schreiber werden bis an ihr Ende schlecht schreiben. Die noch nicht verbildeten Jungen aber möchte ich durch das Aufdecken der schlechten Stile gewisser Alten auf den Weg zum bessern Stil weisen: dies war der stärkste Antrieb zu meiner Arbeit.

Ein hehres Ziel, denn welcher Jugendliche will heute noch etwas von »gutem Deutsch« hören? (Bis auf ein, zwei Ausnahmen natürlich. Die gibt es immer, und dafür bin ich dankbar. ) Schon meine Deutschlehrerin damals in der Oberstufe des Gymnasiums verbot mir, den Begriff »gutes Deutsch« oder »schlechtes Deutsch« zu verwenden. Sie kam damals frisch von der Uni, war ein junges Mädchen von Mitte zwanzig, hatte das so an der Uni gelernt und hielt das für richtig.


Nun, ich halte es bis heute nicht für richtig, tut mir leid, Elke. (Meine Deutschlehrerin hieß Elke. Das war Mitte der 70er, und junge Lehrer hielten es damals für »cool«, sich mit ihren Schülern zu duzen. Ich fand es furchtbar. Lehrer sind Lehrer und Schüler sind Schüler. Wenn ich meinen Lehrer duze, wie soll ich ihn dann ernst genug nehmen oder genug respektieren, um etwas von ihm zu lernen? Aber so war das halt damals.)

Auch Elke hatte die »Stilkunst« von Eduard Engel sicherlich niemals gelesen. Aber sie war ja auch keine Schriftstellerin, sondern nur Deutschlehrerin, und wenn ich manchmal so höre, was Deutschlehrer heute noch erzählen, ist das eventuell eine Entschuldigung. Wir erhalten des öfteren Manuskripte von jungen Mädchen zugeschickt, die gleich dazu schreiben: »Meine Deutschlehrerin hat gesagt, ich schreibe gut.«

Mag sein, daß sie das gesagt hat, aber leider, leider verstehen Deutschlehrer so gut wie nichts vom Schreiben, und das ist deshalb keine Empfehlung. Wenn wir solchen »Autorinnen« dann Änderungsvorschläge für ihr Manuskript machen, werden die meist auch nicht angenommen, denn »Meine Deutschlehrerin hat gesagt, ich schreibe gut.« Offenbar denken diese Mädels, ihre Deutschlehrerin versteht mehr vom Schreiben als ich als erfahrene Schriftstellerin. Ist ihr gutes Recht, nur wird ihr Buch dann niemals veröffentlicht, denn in Verlagen sitzen keine Deutschlehrer, sondern Lektoren und Verleger, die die ganze Sache etwas anders sehen.

Würden die Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen sich mit ihren Bewertungen und Beurteilungen mehr an Eduard Engel halten, sähe die Sache allerdings schon anders aus. Denn wer nach seinen Kriterien »gut« schreibt, der würde auch vor unseren kritischen Augen hier im Verlag Gnade finden. Vielleicht sollten wir mal eine Kopie der »Deutschen Stilkunst« an alle Deutschlehrerinnen schicken, damit sie endlich einmal wissen, was »gutes Deutsch« ist. Aber ich sehe schon die entsetzten Gesichter: »Nein, gutes Deutsch oder schlechtes Deutsch, so etwas gibt es nicht!« Ich glaube nicht, daß Elke da die einzige war, die das glaubte.

Stil ist oftmals eine Frage der Bildung und der Erziehung, aber nicht immer. Wenn man in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem »He, Alter, gib mir mal ’ne Fluppe!« als normale und akzeptierte Ausdrucksweise erachtet wird, wird man es sicherlich schwierig finden, einen Satz wie: »Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich, bitte?« zu formulieren. Eventuell hält man das auch für übertrieben.

Hier jedoch muß ich einmal wieder auf den Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache hinweisen. Ich würde auf einen Satz wie den oben mit der »Fluppe« nie reagieren, weder in gesprochener noch in geschriebener Form, weil ich eine solche Ausdrucksweise einfach unmöglich finde und sie deshalb ignoriere, aber es ist dennoch erlaubt, so etwas in einem Dialog zu schreiben, wenn man dadurch den sozialen Status einer Figur in einem Buch (in diesem Falle den a-sozialen Status) charakterisieren will.

Ist dies jedoch nicht der Fall, handelt es sich um keinen Dialog, sondern um beschreibenden Text beispielsweise in einem Roman, ist eine solche Ausdrucksweise nicht erlaubt. Das ist schlechter Stil, schlechtes Deutsch, zeugt von einem nicht vorhandenen sprachlichen Verständnis oder von einer nicht vorhandenen sprachlichen Bildung. Das ist der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache. Wenn man so schreibt, wie man redet, schreibt man falsch.


Eduard Engel hat sich noch nicht mit solchen Niederungen der Sprache herumgeschlagen, seine Kritik richtete sich gegen die Art von »Stil«, die von manchen auch heute noch als »hohe Literatur« betrachtet wird. Engel wollte einen klaren Stil fördern, keine Verschnörkelungen oder prätentiöse, aber dennoch dumme Schreibweisen, die sich nur hinter (angeblich) gelehrten Worten verstecken. Dieses Problem haben wir heute ebenfalls noch.

Vorausgesetzt wird eine gründliche Kenntnis der deutschen Grammatik

fährt Eduard Engel in der Einleitung zu seinem Buch fort. Und da hapert es bei vielen natürlich schon. Wer kann heute schon noch Grammatik?

Ein guter Stil entspringt einer langjährigen, intensiven Leseerfahrung. Und wer hat die heute noch? Wer hat seinen Hölderlin, Lessing, Uhland oder Goethe gelesen und von ihnen gelernt? Vermutlich kaum jemand. Dann darf man sich allerdings auch nicht wundern, wenn der eigene Stil sich so anhört wie die BILD-Zeitung (weil das vielleicht das einzige ist, was man regelmäßig liest). Denn nur von dem, was man liest, lernt man, positiv wie negativ.

Gerade hier kommt das Buch von Engel zu Ehren, denn er schreibt:

Mein Buch ist nicht für solche Gelehrte bestimmt, deren jeder sich kraft seiner Gelehrsamkeit schon für einen Meister des Stiles hält; sondern für die gleich mir nach einem guten Stil ringenden Ungelehrten, die der liebreichen Unterweisung bedürftig und ihr zugänglich sind.

Also ist das Buch doch genau richtig für uns, die wir vielleicht nicht gelehrt, aber an der Sprache und am Schreiben interessiert sind.

Und vielleicht kommt, wenn wir uns mit diesem Buch beschäftigen, auch einmal wieder ein Gefühl dafür auf, wie wertvoll unsere Muttersprache ist, daß es sich lohnt, sie zu pflegen und daß man sich davor hüten sollte, sie zu sehr zu verschandeln.

Engel formuliert es so:

Vor allem andern war dieses Buch gemeint als Dank aus den Tiefen des Herzens für den Heimatstolz, die Arbeitsfreuden, die Kunstentzückungen, die ich dir, o Muttersprache, reichste aller Zungen, schulde.

Wer empfindet heute noch so für unsere deutsche Muttersprache? Viele werden sicherlich über Engels Einstellung lachen oder sie als altertümlich abtun, aber ich muß sagen, die deutsche Sprache, das ist die Welt, in der ich lebe. Ohne die deutsche Sprache und die Pflege der deutschen Sprache wäre meine Welt eine andere, eine ärmere.

Deshalb werde ich in nächster Zeit einiges aus der »Stilkunst« von Eduard Engel hier zitieren, in der »Schreibwerkstatt« hiermit das Kapitel »Stil« eröffnen und darüber schreiben. Ich denke, wir können viel von diesem Buch lernen.