Noch vor 100 Jahren hätte man all das, was ich hier zu Backstory geschrieben habe, ganz anders gesehen. Vor 200 Jahren gab es auch schon Schriftsteller und Schriftstellerinnen, aber die hätten gar nicht verstanden, wo es da einen Unterschied geben soll zwischen dem, was in der Vergangenheit war, und dem, was heute ist.

Erst durch die Entwicklung des schriftstellerischen Handwerks ist das zu einem Thema geworden. Und durch die Erfindung des Kinos, des Films, der laufenden Bilder. Durch die Unterteilung in immer kürzere Szenen, durch Schnitte, durch Cliffhanger, die die Zuschauer bei einer Serie auf die nächste Folge gespannt sein lassen.

Cliffhanger ist das Bild eines an einem Kliff hängenden Protagonisten, der im nächsten Moment abstürzen könnte. Oder auch nicht. Aber die Szene hört auf, als er da hängt und man nicht weiß, wie es weitergeht. Sinn der Sache ist, dass die Zuschauer sich die Fingernägel abbeißen sollen vor lauter Spannung, bis sie dann endlich in der nächsten Folge erfahren, dass er nicht abgestürzt ist. Und die (hoffentlich) interessante Geschichte, wie er das geschafft hat.

Dieses Prinzip hat sich mittlerweile in der aktuellen Unterhaltungsliteratur sehr durchgesetzt. Nur dass ein Cliffhanger bei manchen Bestsellerautoren das Ende jeder Szene ist. Was dann auch wieder langweilig wird. Manche Szenen müssen anders enden, sonst weiß man immer schon im Voraus, was passiert.

Was aber unabdingbar ist: Das Ende jeder Szene muss spannend sein. Und noch spannender muss das Ende jeden Kapitels sein. Wobei sich jedes Ende von dem anderen unterscheiden muss. Eine Protagonistin, die am Ende eines jeden Kapitels wegläuft, jemand anderem eine Ohrfeige verpasst oder in Heulen versinkt ist genauso langweilig wie ein Protagonist, der am Ende jeder Szene an einem Kliff hängt.

Selbstverständlich kann ein Cliffhanger auch aus etwas ganz anderem bestehen als aus einem Rambo, der irgendwo rumhängt. Der Cliffhanger ist nur eine Metapher für ein Rätsel, das gelöst werden muss, für eine Situation, die überstanden, überlebt werden muss, für eine Wendung in der Geschichte.

Genau diese Art des Geheimnisses oder Rätsels war vor 200 Jahren bei Schriftstellern und Schriftstellerinnen jener Zeit überhaupt kein Thema. Da wurde alles so erzählt, wie es passierte, möglichst noch mit ganz vielen Beschreibungen und Rückblenden und der ganzen Familiengeschichte der verschiedenen Personen.

Ein gutes Beispiel dafür ist »Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim« von Sophie von La Roche, der erfolgreichsten Unterhaltungsschriftstellerin ihrer Zeit, der offiziell ersten Berufsschriftstellerin Deutschlands. Sie wurde 1730 geboren und starb 1807, lebte also im 18. Jahrhundert, vor mehr als 200 Jahren.

Die Zeiten waren damals völlig andere als heute. Wahrscheinlich hätte niemand etwas mit einem Buch der heutigen Zeit anfangen können. Damals waren Briefromane üblich. Ein Roman wurde oftmals so geschrieben, als ob eine Person der anderen die Geschichte in Briefen erzählte. So beginnt auch »Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim«.

 

Sie sollen mir nicht danken, meine Freundin, daß ich so viel für Sie abschreibe. Sie wissen, daß ich das Glück hatte, mit der vortrefflichen Dame erzogen zu werden, aus deren Lebensbeschreibung ich Ihnen Auszüge und Abschriften von den Briefen mitteile, welche Mylord Seymour von seinen englischen Freunden und meiner Emilia sammelte. Glauben Sie, es ist ein Vergnügen für mein Herz, wenn ich mich mit etwas beschäftigen kann, wodurch das geheiligte Andenken der Tugend und Güte einer Person, welche unserm Geschlechte und der Menschheit Ehre gemacht, in mir erneuert wird. Der Vater meiner geliebten Lady Sidney war der Oberste von Sternheim, einziger Sohn eines Professors in W. …

 

Und nun geht es erst einmal eine ganze Weile um diesen Vater, seinen Vater, seinen besten Freund, sein Leben, seine Charaktereigenschaften, seine Kriegserlebnisse usw. Was auch immer das alles mit dem Fräulein von Sternheim, die ja eigentlich die Protagonistin des Buches ist, zu tun haben soll.

Ich würde heute, wenn mir jemand ein solches Manuskript zuschicken würde, erst einmal verlangen, dass das alles gestrichen wird, denn es ist definitiv überflüssig. Aber hätte man das damals Sophie von La Roche oder ihren Lesern gesagt, hätten sie wohl nicht verstanden, was das Problem ist. Es war damals ungeheuer wichtig, aus was für einer Familie man stammte, welchen Hintergrund diese Familie hatte, über Generationen. Wer keine angesehene Familie vorzuweisen hatte, war ein Nichts.

Auch heute noch schreiben manche Leute so, erzählen jedes kleinste Detail jeder Person in der Geschichte, von Eltern, Brüdern, Schwestern, Freundinnen und Freunden, kommen vom Hölzchen aufs Stöckchen, wechseln ständig die Perspektive, sobald eine neue Person auftaucht. Das ist für die LeserInnen dann sehr verwirrend.

Wir sind durch unsere Lese- und vor allem auch Zuschauererfahrungen in Film und Fernsehen mittlerweile ganz etwas anderes gewöhnt. Eine Geschichte wird so schnell wie möglich vorangetrieben, darf sich nicht verzetteln, und es wird normalerweise aus der Perspektive des Helden oder der Heldin erzählt. Eine Szene muss sich logisch aus der vorherigen ergeben, der rote Faden muss immer erhalten bleiben.

Mit so etwas schlug sich Sophie von La Roche nicht herum. Man hat das Gefühl, sie plappert einfach so vor sich hin, schreibt auf, was ihr gerade in den Sinn kommt, rein assoziativ. Damit füllt sie Seite um Seite und hat offensichtlich die Erwartungen ihrer Leser getroffen. Sie schrieb einen Roman nach dem anderen und konnte bald tatsächlich davon leben. Sehr ungewöhnlich damals, als Frauen weder einen Beruf noch Geld hatten, völlig abhängig zuerst von ihrem Vater und dann von ihrem Ehemann waren, der über alles bestimmen konnte.

Doch die Zeiten haben sich geändert, und deshalb kann man heute nicht mehr so schreiben. Jedenfalls nicht, wenn man gelesen werden will und die eigenen Manuskripte nicht in der Schublade oder auf der Festplatte verstauben sollen.

Heute ist es wichtig, die Backstory in den Hintergrund zu verbannen. Sie wird nicht im Buch erzählt, selbst wenn die Autorin jede Einzelheit der Familiengeschichte ihrer Heldin kennt. Die Kerngeschichte ist das, worum sich alles dreht.

Als ich das »Fräulein von Sternheim« las, dachte ich mir, daraus könnte man wirklich eine spannende Geschichte machen, denn es geht um Mord und Totschlag, Verrat, Verzicht, Folter, Betrug, Gemeinheit ohne Ende und viel Blut, aber das würde man hinter der betulichen Art, in der das Buch geschrieben ist, nicht vermuten.

Vielleicht nehme ich die Geschichte ja mal und mache einen historischen Roman daraus. Dann allerdings mit einem Fräulein von Sternheim, die von einer hehren Ritterin gerettet und mit ihr glücklich wird. :)